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Full text of "Essays über Kunst und Künstler"

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Kandinsky 


Essays  über  Kunst  und  Künstler 


Dieses  Buch  kann  als  dritter  Band  einer  von  Kandinsky  verf  aß- 
ten  Schriftenreihe  zur  Kunst  verstanden  werden.  Nach  Über  das 
Geistige  in  der  Kunst  und  Punkt  und  Linie  zu  Fläche  enthält 
dieser  Band  eine  Reihe  von  Aufsätzen,  die  von  den  Beiträgen 
für  den  Almanach  Der  Blaue  Reiter  bis  zu  den  letzten  Zeit- 
schriftenveröffentlichungen  reichen.  Die  Aufsätze  sind  aus 
sehr  verschiedenen  Anlässen  entstanden.  Der  erste  hier  wie- 
dergegebene «Über  die  Formfrage»  wurde  für  den  Almanach 
Der  Blaue  Reiter  geschrieben.  Er  führt  die  Gedanken  weiter, 
die  in  Über  das  Geistige  in  der  Kunst  dargestellt  sind.  Von  da 
bis  zu  den  verschiedenen  Abhandlungen  über  konkrete  Kunst 
(ab  1938)  und  schließlich  zum  Text  zu  dem  Gedenkbuch  für 
Sophie  Taeuber-Arp  spannt  sich  der  Bogen  des  Interesses 
und  des  textlichen  Umfanges  vom  kurzen  Vorwort  bis  zur 
eingehenden  theoretischen  Auseinandersetzung,  die  vor  allem 
ab  1926  eine  Weiterentwicklung  der  im  Bauhaus-Buch  Punkt 
und  Linie  zu  Fläche  vertretenen  Gedanken  sind.  Dadurch 
wurden  diese  Texte,  vor  allem  jene  aus  den  letzten  Jahren, 
über  konkrete  Kunst,  zum  eigentlichen  theoretischen  Ver- 
mächtnis Kandinskys. 

Diesem  Buch  beigegeben,  begleiten  über  30  Zeichnungen  den 
Text.  Sie  sind  so  ausgesucht,  daß  mit  ihnen  die  Entwicklung 
des   Zeichenstils,   den   Kandinsky   geschafTen   hat,  möglichst 


Property  of 
The  Hilla  von  Rebay  Foundation 


Kandinsky:  Essays  über  Kunst  und  Künstler 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2012  with  funding  from 

Metropolitan  New  York  Library  Council  -  METRO 


http://archive.org/details/essberkOOkand 


Kandinsky 


Essays  über  Kunst  und  Künstler 


herausgegeben  und  kommentiert  von  Max  Bill 


THE  HILLA  VON  REBAY  FOUNDATION 

77  MORNINGSIDE  DRIVE 
GREENS  FARMS.  CONNECTICUT    06436 


Verlag  Gerd  Hat  je  Stuttgart 


Printed  in  Germany 

Copyright  1955  by  Max  Bill,  Zürich  und  Nina  Kandinsky,  Neuilly  s.  Seine 

Gedruckt  von  der  Druckerei  Jungmann,  Göppingen 

Gestaltet  von  Max  Bill 


Einführung 

Dieses  Buch  könnte  als  der  dritte  Band  einer  Reihe  von  theoretischen 
Schriften  zur  Kunst  verstanden  werden,  die  Wassily  Kandinsky  ver- 
faßt hat. 

Das  erste  Buch  wäre  Über  das  Geistige  in  der  Kunst,  erstmals  im  Dezem- 
ber 1911  in  München  bei  Piper  erschienen.  Es  ist  1952,  40  Jahre  später 
vom  Verlag  Benteli,  Bern-Bümpliz,  neu  aufgelegt  worden. 
Das  zweite  Buch  wäre  Punkt  und  Linie  %u  Fläche,  das  1926  als  9.  Bau- 
haus-Buch bei  Albert  Langen,  München,  nun  nach  fast  20  Jahren, 
1955,  ebenfalls  im  Verlag  Benteli  wieder  erschienen  ist. 
Diese  beiden  Bücher  sind  die  eigentlichen  zusammenhängenden  theo- 
retischen Traktate,  die  Kandinsky  als  solche  konzipierte;  das  zweite 
als  logische  Fortsetzung  des  ersten.  Seine  Bücher  Klänge  (1913,  Piper, 
München)  und  Rückblicke  (1913,  Der  Sturm,  Berlin)  sind  nicht  als  theo- 
retische Äußerungen  zu  betrachten.  Klänge  ist  ein  rein  künstlerisches 
Dokument,  Rückblicke  hat  vorwiegend  biografischen  Charakter. 
Dieses  neue  Buch,  dem  ich  den  Titel  gab:  Kandinsky:  Essays  über  Kunst 
und  Künstler,  ist  insofern  anders  geartet,  als  es  sich  hier  nicht  um  ein 
von  Kandinsky  konzipiertes  Buch  handelt,  sondern  um  eine  Sammlung 
und  Auswahl  seiner  an  verschiedenen  Orten  erschienenen  Aufsätze. 
Wenn  ich  darauf  verzichtet  habe,  einige  wenige  nicht  zu  berücksichtigen, 
so  deshalb,  weil  diese  sich  zum  Teil  inhaltlich  zu  sehr  decken,  das 
heißt,  daß  von  zwei  Aufsätzen  aus  derselben  Zeit,  von  denen  wohl 
auch  der  eine  auf  Grund  des  andern  entstanden  war,  der  wesent- 
lichere hier  veröffentlicht  wird. 


Dennoch  ist  es  unvermeidlich,  daß  gewisse  Wiederholungen  auf- 
treten. Oft  benützt  Kandinsky  Zitate  aus  früher  von  ihm  Geschrie- 
benem, und  öfter  bei  ähnlichen  oder  verschiedenen  Anlässen  dieselben. 
Diese  Wiederholungen  ganz  auszumerzen  hieße  jedoch  die  Texte  ver- 
stümmeln und  unverständlich  machen. 

Die  Aufsätze  sind  aus  sehr  verschiedenen  Gründen  entstanden.  Der 
erste  hier  wiedergegebene,  «Über  die  Formfrage»,  wurde  für  den 
bekannten  Almanach  Der  Blaue  Reiter  geschrieben  und  ist  eine  Fort- 
setzung der  Gedanken,  die  in  Über  das  Geistige  in  der  Kunst  dargestellt 
sind.  Von  da  bis  zu  den  Abhandlungen  über  konkrete  Kunst  (ab  1938) 
und  schließlich  zum  Text  zum  Gedenkbuch  für  Sophie  Taeuber-Arp, 
spannt  sich  der  Bogen  des  Interesses  und  des  textlichen  Umfanges  vom 
kurzen  Katalog -Vorwort  bis  zur  eingehenden  theoretischen  Ausein- 
andersetzung, die  vor  allem  ab  1926  eine  Weiterentwicklung  der  im 
Bauhaus-Buch  Punkt  und  Linie  t(U  Fläche  vertretenen  Gedanken  sind. 
Dadurch  wurden  diese  Texte,  vor  allem  jene  über  konkrete  Kunst 
aus  den  letzten  Jahren,  zum  eigentlichen  theoretischen  Vermächtnis 
und  zum  Teil  zur  Korrektur  der  von  Kandinsky  erarbeiteten  Grund- 
lagen der  Kunst,  insbesondere  der  Malerei. 

Dieses  Buch  habe  ich  zusammengestellt  in  dankbarer  Erinnerung  an 
einen  meiner  wesentlichsten  Lehrer  am  Bauhaus  in  Dessau.  Über 
seine  damalige  pädagogische  Tätigkeit  und  Auswirkung  schrieb  ich 
im  Buch  Wassily  Kandinsky,  das  ich  1951  bei  Maeght  in  Paris  heraus- 
gab, unter  dem  Titel  «Kandinsky  als  Pädagoge  und  Erzieher» : 
«Die  erzieherische  und  pädagogische  Arbeit  Wassily  Kandinskys  be- 


gann  schon  1912,  als  er  in  München  eine  Privatschule  für  Malerei 
gründete.  Aber  erst  seine  Tätigkeit  in  Moskau  während  der  Jahre 
1918  bis  1921  war  in  größerem  Ausmaß  erzieherischen  Aufgaben 
gewidmet.  Damals,  in  seiner  Funktion  als  Mitglied  der  Kunstabteilung 
des  Volkskommissariates  für  Volkserziehung,  als  Professor  an  der 
Kunstakademie,  als  Direktor  des  Museums  für  malerische  Kultur  und 
durch  die  Gründung  der  «Russischen  Akademie  für  künstlerische 
Wissenschaften»  bewies  Kandinsky,  daß  er  sich  der  Verantwortung 
bewußt  war,  die  ein  Künstler  und  Pionier  gegenüber  der  Gesellschaft 
zu  übernehmen  hat.  Seine  eigentliche  Tätigkeit  als  Erzieher  und  Lehrer 
begann  jedoch  erst  1922  mit  seiner  Berufung  an  das  «Staatliche  Bauhaus» 
in  Weimar,  das  1919  von  Walter  Gropius  gegründet  worden  war. 
Kandinsky  ist  dem  «Bauhaus»,  von  da  bis  zum  Schluß  im  Jahre  1933, 
treu  geblieben.  Er  machte  die  Umsiedlung  von  Weimar  nach  Dessau  mit 
und  später  von  Dessau  nach  Berlin.  Als  die  Nazis  die  Schule  schlössen, 
endete  auch  seine  Lehrtätigkeit,  und  er  ging  bald  darauf  nach  Paris. 
Während  fast  11  Jahren  hat  Kandinsky  entscheidend  am  «Bauhaus» 
gewirkt.  Nicht  nur  als  Lehrer,  nicht  nur  als  Vizedirektor,  nicht  nur 
als  Anreger  durch  seine  Werke,  sondern  auch  als  verehrter  Freund 
und  Ratgeber  für  jeden. 

Kandinsky  war  sich  bewußt,  welch  wesentliche  Eindrücke  davon  aus- 
gingen, daß  er  im  ersten  Semester  des  Vorkurses  die  jungen  Studieren- 
den in  die  Probleme  der  Kunst  unserer  Zeit  einführte,  daß  er  die  Bedeu- 
tung der  Entwicklung  der  Malerei,  als  Disziplin  der  Gestaltung,  auf 
unkonventionelle,  undogmatische,  aber  persönliche  Art,  aus  der  Erfah- 
rung und  Einsicht  desKünstlers  heraus,seinenSchülernmitteilenkonnte. 


Als  ich  1927  an  das  «Bauhaus»  kam,  war  Kandinsky  eben  60  Jahre 
alt  geworden.  Ich  hatte  mich  schon  vorher  gefragt,  was  denn  all  die 
Maler  am  «Bauhaus»  eigentlich  täten,  wirkten  doch  neben  Kandinsky 
dort  noch  Klee,  Feininger,  Schlemmer,  Moholy,  Muche  und  Albers. 
Dabei  wurde  offiziell  am  «Bauhaus»  nicht  gemalt.  Sehr  bald  merkte 
ich,  daß  alle  diese  bedeutenden  Künstler  eine  pädagogische  Tätigkeit 
ausübten,  die  mit  ihrer  Malerei  teilweise  nur  in  losem  Zusammenhang 
stand.  So  unterrichtete  Kandinsky  vorerst  eine  Art  «Geschichte  der 
neueren  Kunst»  und  in  Verbindung  damit,  und  im  Anschluß  daran, 
eine  Kompositionslehre,  die  sich  auf  den  Erkenntnissen  der  Kunst- 
entwicklung aufbaute.  Ein  Zeichenunterricht  unter  seiner  Leitung  be- 
stand darin,  daß  aus  den  verschiedenartigsten  Gegenständen  eine  Art 
Stilleben  aufgebaut  wurde,  das  die  Schüler  dann  zeichneten.  Aber  es 
war  kein  Abzeichnen,  sondern  ein  Suchen  nach  der  Struktur  der  gesam- 
ten Erscheinung.  So  entstanden  Studien,  in  denen  nur  die  horizontalen 
oder  nur  die  vertikalen  oder  diagonalen  Elemente  dargestellt  wur- 
den, verschieden  betont  nach  ihrer  Wichtigkeit.  Oder  die  runden  und 
die  eckigen  Formen  wurden  einander  gegenübergestellt. 
Im  ganzen  nicht  «Komposition»,  sondern  «Analyse»  des  Vorhandenen. 
Nicht  Kunstunterricht,  sondern  elementare  Beobachtungsschulung. 
Etwas  später  entdeckte  ich,  daß  am  «Bauhaus»  trotz  aller  «offiziellen 
Ablehnung»  gemalt  wurde.  Es  gab  einige  Kameraden,  die  nichts 
anderes  taten  als  Bilder  malen.  Das  war  bei  uns  sehr  verpönt.  Wir 
forderten  praktische  Ergebnisse,  Sozialprodukte.  Aber  im  Unter- 
grund gab  es  eine  «maladie  de  la  peinture»,  eine  Art  schleichende  Sucht 
nach  den  verbotenen  Früchten.  Auch  bei  mir  kam  es  so  weit,  daß  ich 


mich  eines  Tages  erkundigte,  was  denn  das  sei,  diese  «freien  Mal- 
klassen» der  Meister,  und  ob  ich  da  mitmachen  könnte.  So  trat  ich  bei 
Kandinsky  (und  Klee)  in  die  freie  Malklasse  ein.  Das  bedeutete,  daß 
man  jede  Woche  einmal  seine  neuesten  «Erfindungen»  zu  Kandinsky 
oder  zu  Klee  trug.  Bei  Klee  waren  es  viele  Schüler,  bei  Kandinsky 
eine  kleinere  Zahl.  Der  Zugang  zu  seiner  Kunst  schien  schwieriger 
zu  sein  als  zu  der  Klees,  die  durch  ihre  äußere  Erscheinung  den  rational 
denkenden  Bauhausstudierenden  als  Kompensation  dienen  mochte. 
Nun  erst  lernte  ich  Kandinsky  kennen,  wie  er  in  seiner  besorgten  Art 
versuchte,  den  richtigen  Weg  zu  weisen  oder  uns  davon  überzeugte, 
daß  die  Entwicklung  weitergehen  müsse.  Und  was  sehr  wichtig  war: 
oft  wurde  in  erster  Linie  überhaupt  nicht  von  der  Malerei  gesprochen, 
sondern  von  andern  wichtigen  Fragen,  auch  von  den  persönlichen  An- 
liegen. Und  gerade  dadurch  wurde  die  Wirkung  so  nachhaltig  auch 
für  das,  was  Kandinsky  als  Maler  zu  sagen  hatte.  Gerade  darin  lag 
das  pädagogische  Talent  Kandinskys :  Er  war  ein  Mensch,  der  hilfreich 
die  Jungen  führte.  Der  ihnen  nicht  die  Zweifel  nahm,  sondern  der  in 
ihnen  die  sichere  Urteilsbildung,  die  ununterbrochene  Kritik  und  Selbst- 
kritik wachrief.  Seine  Menschlichkeit,  zusammen  mit  seinem  feinen 
Gefühl  für  die  Situation,  und  seine  väterliche  Güte  waren  das  Geheimnis 
seines  erzieherischen  Erfolges,  der  wiederum  undenkbar  gewesen  wäre 
ohne  sein  umfassendes  Wissen  und  sein  andauerndes  Streben  nach  neuen 
Erkenntnissen.» 

Ich  möchte  außerdem  noch  darauf  hinweisen,  daß  das  erwähnte  Buch 
neben  Beiträgen  von  Hans  Arp,  Charles  Estienne,  Will  Grohmann, 
Ludwig  Grote,  Nina  Kandinsky  und  Alberto  Magnelli,  einen  sehr 


wesentlichen  Aufsatz  enthält  von  Carola  Giedion -Welcker,  betitelt 
«Kandinsky  als  Theoretiker».  Darin  wird  vom  Standpunkt  des  Kunst- 
historikers aus  die  theoretische  Leistung  Kandinskys  gewertet. 

Ich  möchte  hier  meiner  Freundin  Nina  Kandinsky  für  die  bereitwillige 
Hilfe  danken,  mit  der  sie  die  Vorarbeit  für  die  Herausgabe  dieser  ge- 
sammelten Schriften  gefördert  hat,  und  für  ihr  Entgegenkommen,  das 
die  Herausgabe  in  der  vorliegenden  Form  ermöglicht  hat. 
Schließlich  möchte  ich  meiner  früheren  Sekretärin  Corinne  Pulver 
danken  für  ihre  Hilfe  beim  Beschaffen  der  druckfertigen  Manuskripte, 
und  meinem  Sekretär  Eugen  Gomringer,  der  einen  großen  Teil  der 
Übertragungen  der  vielfach  nur  französisch  oder  englisch  vorliegen- 
den Texte  ins  Deutsche  besorgte. 

Diesem  Buch  beigegeben,  begleiten  über  30  Zeichnungen  den  Text. 
Sie  sind  nach  Möglichkeit  so  ausgesucht,  daß  mit  ihnen  die  Entwick- 
lung des  Zeichenstils,  den  Kandinsky  geschaffen  hat,  möglichst  cha- 
rakteristisch wiedergegeben  wird,  von  1910,  dem  Beginn  seiner  ersten 
Abstraktionen,  bis  1944,  dem  Jahr  seines  Todes. 
Es  ist  das  erste  Mal,  daß  in  diesem  Umfang  und  in  so  vollständiger 
Auswahl  Zeichnungen  von  Kandinsky  veröffentlicht  werden.  Im 
Juli  1933  war  allerdings  im  Heft  14  der  Zeitschrift  «Selection»  in 
Antwerpen  eine  schön  gerundete  Reihe  von  Zeichnungen  erschienen, 
begleitet  von  einem  provisorischen  Werkverzeichnis.  Doch  ist  jenes 
Heft  schon  seit  vielen  Jahren  vergriffen.  Dadurch  füllen  die  den  Text 
hier  begleitenden  Zeichnungen  eine  Lücke  aus,  nicht  nur  als  Ersatz, 
sondern  auch  als  Fortsetzung. 


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Für  Kandinsky  hatte  die  Zeichnung  zwei  verschiedene  Funktionen, 
trotzdem  war  er  stets  darauf  bedacht,  der  Zeichnung  als  solcher  einen 
eigenen  Wert  zuzugestehen.  Für  ihn  war  die  Zeichnung  in  vielen, 
wohl  den  meisten  Fällen,  das  Schema,  mit  dem  er  die  Struktur  seiner 
Bild-Ideen  festlegte.  Dies  gilt  vor  allem  von  seinen  ganz  frühen 
Zeichnungen  ab  1910;  doch  auch  später  enthält  die  Zeichnung  oft  das 
Wesentliche  einer  Bildkomposition,  sei  es  als  Schema,  sei  es  schon  in 
weiterer  Ausführung. 

Doch  wie  es  bei  Kandinsky  ein  namhaftes  grafisches  Werk  gibt 
(Holzschnitte,  Radierungen  und  Lithografien),  so  entstanden  auch 
selbständige  Zeichnungen,  die  nicht  als  Ölbilder  wiederkehren. 
Es  handelt  sich  dabei  meist  um  Zeichnungen,  mit  denen  er  ein  be- 
stimmtes Form-  oder  Kompositionsprinzip  darstellte,  wie  beispiels- 
weise in  einer  Gruppe,  die  im  Zusammenhang  mit  Punkt  und  Linie 
%u  Fläche  entstand. 

Im  weiteren  Forminhalt  und  Inhaltsform  der  Zeichnungen  deuten 
zu  wollen,  über  ihren  eigenen  Ausdruck  hinaus,  scheint  hier  weder 
angebracht  noch  nötig,  hat  doch  Kandinsky  in  seinen  Schriften  es 
selbst  unternommen  zu  erläutern,  was  Sinn  und  Ziel  seiner  Kunst  sei. 
Wir  haben  bei  Kandinsky  den  Fall  einer  Identität  von  gestaltendem 
Schaffen  und  theoretisch-schriftlicher  Äußerung  vor  uns,  der  in  seinem 
Bemühen,  sich  über  das  Künstlerische  hinaus  auch  intellektuell,  vor 
sich  selbst  und  gegenüber  seiner  Umwelt,  zu  rechtfertigen,  mit  be- 
sonderer Eindeutigkeit  dasteht.  Damit  befindet  sich  Kandinsky  in  der 
bevorzugten  Lage,  sich,  durch  seine  eigenen  Äußerungen,  vor  Fehl- 
interpretationen Dritter  weitgehend  geschützt  zu  haben.  Wenn  man 


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erlebt,  was  heute  von  mehr  oder  weniger  Berufenen  in  die  Kunst- 
werke und  in  das  Leben  der  Künstler  hineingeheimnißt  wird,  wobei 
oft  eher  reklamehafte  Geschäftigkeit  als  wirkliches  Verständnis  den 
Anlaß  bilden,  ist  man  Kandinsky  dankbar  für  seine  authentischen 
Essays  über  Kunst  und  Künstler. 

Zürich,  Neujahr  1955  Max  Bill 


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Über  die  Formfrage 


«Über  die  Formfrage»  erschien  1912  in  der  Publikation  Der  Blaue 
Reiter  im  Verlag  R.  Piper  &  Co.,  München,  herausgegeben  von 
Kandinsky  und  Franz  Marc.  Es  handelt  sich  dabei  um  einen  der 
umfangreichsten  Beiträge  dieser  vielzitierten  Publikation  und  um 
eine,  sowohl  nach  Stil  und  Inhalt,  an  Über  das  Geistige  in  der  Kunst 
(im  Dezember  1911  ebenfalls  bei  Piper  erschienen)  angelehnte  und 
deren  Gedanken  weiterführende  Abhandlung. 


Zur  bestimmten  Zeit  werden  die  Notwendigkeiten  reif.  Das  heißt 
der  schaffende  Geist  (welchen  man  als  den  abstrakten  Geist  bezeich- 
nen kann)  findet  einen  Zugang  zur  Seele,  später  zu  den  Seelen  und 
verursacht  eine  Sehnsucht,  einen  innerlichen  Drang. 
Wenn  die  zum  Reifen  einer  präzisen  Form  notwendigen  Bedin- 
gungen erfüllt  sind,  so  bekommt  die  Sehnsucht,  der  innere  Drang, 
die  Kraft,  im  menschlichen  Geist  einen  neuen  Wert  zu  schaffen, 
welcher  bewußt  oder  unbewußt  im  Menschen  zu  leben  anfängt. 
Bewußt  oder  unbewußt,  sucht  der  Mensch  von  diesem  Augenblick 
an  dem  in  geistiger  Form  in  ihm  lebenden  neuen  Wert  eine  ma- 
terielle Form  zu  finden. 

Das  ist  das  Suchen  des  geistigen  Wertes  nach  Materialisation.  Die 
Materie  ist  hier  eine  Vorratskammer,  aus  welcher  der  Geist  das  ihm 
in  diesem  Falle  Nötige  wählt,  wie  es  der  Koch  tut. 
Das  ist  das  Positive,  das  Schaffende.  Das  ist  das  Gute.  Der  weiße 
befruchtende  Strahl. 

Dieser  weiße  Strahl  führt  zur  Evolution,  zur  Erhöhung.  So  ist  hin- 
ter der  Materie,  in  der  Materie  der  schaffende  Geist  verborgen. 
Das  Verhüllen  des  Geistes  in  der  Materie  ist  oft  so  dicht,  daß  es  im 


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allgemeinen  wenig  Menschen  gibt,  die  den  Geist  hindurchsehen 
können.  So  sehen  gerade  heute  viele  den  Geist  in  der  Religion, 
in  der  Kunst  nicht.  Es  gibt  ganze  Epochen,  die  den  Geist  ableugnen, 
da  die  Augen  der  Menschen  im  allgemeinen  zu  solchen  Zeiten  den 
Geist  nicht  sehen  können.  So  war  es  im  19.  Jahrhundert  und  so  ist 
es  im  großen  und  ganzen  noch  heute. 
Die  Menschen  werden  verblendet. 

Eine  schwarze  Hand  legt  sich  auf  ihre  Augen.  Die  schwarze  Hand 
gehört  dem  Hassenden.  Der  Hassende  versucht  durch  alle  Mittel  die 
Evolution,  die  Erhöhung  zu  bremsen. 

Das  ist  das  Negative,  das  Zerstörende.  Das  ist  das  Böse.  Die  schwarte 
todbringende  Hand. 

Die  Evolution,  die  Bewegung  nach  vor-  und  aufwärts,  ist  nur  dann 
möglich,  wenn  die  Bahn  frei  ist,  das  heißt  wenn  keine  Schranken  im 
Wege  stehen.  Das  ist  die  äußere  Bedingung. 

Die  Kraft,  die  auf  der  freien  Bahn  den  menschlichen  Geist  nach  vor- 
und  aufwärts  bewegt,  ist  der  abstrakte  Geist.  Er  muß  natürlich  her- 
ausklingen und  gehört  werden  können.  Der  Ruf  muß  möglich  sein. 
Das  ist  die  innere  Bedingung. 

Diese  beiden  Bedingungen  zu  vernichten,  ist  das  Mittel  der  schwar- 
zen Hand  gegen  die  Evolution. 

Die  Werkzeuge  dazu  sind:  die  Angst  vor  der  freien  Bahn,  vor  der 
Freiheit  (Banausentum)  und  die  Taubheit  gegen  den  Geist  (stumpfer 
Materialismus). 

Deshalb  wird  jeder  neue  Wert  von  den  Menschen  feindlich  betrachtet. 
Man  sucht  ihn  zu  bekämpfen  durch  Spott  und  Verleumdung.  Der  den 


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Wert  bringende  Mensch  wird  als  lächerlich  und  unehrlich  dargestellt. 
Es  wird  über  den  neuen  Wert  gelacht  und  geschimpft.  Das  ist  der 
Schreck  des  Lebens. 

Die  Freude  des  Lebens  ist  der  unaufhaltsame,  ständige  Sieg  des  neuen 
Wertes. 

Dieser  Sieg  geht  langsam  vor  sich.  Der  neue  Wert  erobert  ganz 
allmählich  die  Menschen.  Und  wenn  er  in  vielen  Augen  unzweifel- 
haft wird,  so  wird  aus  diesem  Wert,  der  heute  unumgänglich  nötig 
war,  eine  Mauer  gebildet,  die  gegen  Morgen  gerichtet  ist. 
Das  Verwandeln  des  neuen  Wertes  (der  Frucht  der  Freiheit)  in  eine 
versteinerte  Form  (Mauer  gegen  Freiheit)  ist  das  Werk  der  schwarzen 
Hand. 

Die   ganze   Evolution,    das   heißt   das   innere   Entwickeln   und   die 
äußere  Kultur,  ist  also  ein  Verschieben  der  Schranken. 
Die  Schranken  werden  ständig  aus  neuen  Werten  geschaffen,  die  die 
alten  Schranken  umgestoßen  haben. 

So  sieht  man,  daß  im  Grunde  nicht  der  neue  Wert  das  wichtigste  ist, 
sondern   der   Geist,   welcher   sich  in   diesem  Werte   offenbart   hat. 
Und  weiter  die  für  die  Offenbarungen  notwendige  Freiheit. 
So  sieht  man,  daß  das  Absolute  nicht  in  der  Form  (Materialismus) 
zu  suchen  ist. 

Die  Form  ist  immer  zeitlich,  das  heißt  relativ,  da  sie  nichts  mehr  ist, 
als  das  heute  notwendige  Mittel,  in  welchem  die  heutige  Offen- 
barung sich  kundgibt,  klingt. 

Der  Klang  ist  also  die  Seele  der  Form,  die  nur  durch  den  Klang 
lebendig  werden  kann  und  von  innen  nach  außen  wirkt. 


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Die  Form  ist  der  äußere  Ausdruck  des  inneren  Inhaltes. 
Deshalb  sollte  man  sich  aus  der  Form  keine  Gottheit  machen.  Und 
man  sollte  nicht  länger  um  die  Form  kämpfen,  als  sie  zum  Ausdrucks- 
mittel des  inneren  Klanges  dienen  kann.  Deshalb  sollte  man  nicht  in 
einer  Form  das  Heil  suchen. 

Diese  Behauptung  muß  richtig  verstanden  werden.  Für  jeden  Künstler 
(das  heißt  produktiven  Künstler  und  nicht  «Nachempfinder»)  ist  sein 
Ausdrucksmittel  (=  Form)  das  beste,  da  es  am  besten  das  ver- 
körpert, was  er  zu  verkünden  verpflichtet  ist.  Daraus  wird  aber  oft 
fälschlich  die  Folge  gezogen,  daß  dieses  Ausdrucksmittel  auch  für 
die  andern  Künstler  das  beste  ist  oder  sein  sollte. 
Da  die  Form  nur  ein  Ausdruck  des  Inhaltes  ist  und  der  Inhalt  bei 
verschiedenen  Künstlern  verschieden  ist,  so  ist  es  klar,  daß  es  zu 
derselben  Zeit  viel  verschiedene  Formen  geben  kann,  die  gleich  gut  sind. 
Die  Notwendigkeit  schafft  die  Form.  In  großen  Tiefen  lebende  Fische 
haben  keine  Augen.  Der  Elefant  hat  einen  Rüssel.  Das  Chamäleon 
verändert  seine  Farbe  undsoweiter. 

So  spiegelt  sich  in  der  Form  der  Geist  des  einzelnen  Künstlers.  Die 
Form  trägt  den  Stempel  der  Persönlichkeit. 

Die  Persönlichkeit  kann  aber  natürlich  nicht  als  etwas  außer  Zeit 
und  Raum  Stehendes  aufgefaßt  werden.  Sondern  sie  unterliegt  in 
gewissem  Maße  der  Zeit  (Epoche),  dem  Raum  (Volk). 
Ebenso  wie  jeder  einzelne  Künstler  sein  Wort  zu  verkünden  hat,  so 
auch  jedes  Volk,  und  also  auch  das  Volk,  zu  welchem  dieser  Künstler 
gehört.  Dieser  Zusammenhang  spiegelt  sich  in  der  Form  und  wird 
durch  das  Nationale  im  Werke  bezeichnet. 


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Und  endlich  hat  auch  jede  Zeit  eine  ihr  speziell  gegebene  Aufgabe, 
die  durch  sie  mögliche  Offenbarung.  Die  Abspiegelung  dieses  Zeit- 
lichen wird  als  Stil  im  Werke  erkannt. 

Alle  diese  drei  Elemente  des  Stempels  auf  einem  Werke  sind  unver- 
meidlich. Es  ist  nicht  nur  überflüssig,  für  ihr  Vorhandensein  zu  sorgen, 
sondern  auch  schädlich,  da  das  Gewaltsame  auch  hier  nichts  als  eine 
Vortäuschung,  einen  zeitlichen  Betrug  erzielen  kann. 
Und  andererseits  wird  es  von  selbst  klar,  daß  es  überflüssig  und 
schädlich  ist,  nur  eins  der  drei  Elemente  besonders  geltend  machen 
zu  wollen.  So  wie  heute  viele  sich  um  das  Nationale  und  andere 
wieder  um  den  Stil  bemühen,  so  hat  man  vor  kurzem  besonders  dem 
Kultus  der  Persönlichkeit  (des  Individuellen)  gehuldigt. 
Wie  im  Anfang  gesagt  wurde,  bemächtigt  sich  der  abstrakte  Geist 
erst  eines  einzelnen  menschlichen  Geistes,  später  beherrscht  er  eine 
immer  größer  werdende  Anzahl  der  Menschen.  In  diesem  Augen- 
blick unterliegen  einzelne  Künstler  dem  Zeitgeist,  welcher  sie  zu 
einzelnen  Formen  zwingt,  die  einander  verwandt  sind  und  dadurch 
auch  eine  äußerliche  Ähnlichkeit  besitzen. 

Diesen  Moment  nennt  man  eine  Bewegung.  Sie  ist  vollkommen  be- 
rechtigt und  (ebenso  wie  die  einzelne  Form  für  einen  Künstler) 
einer  Gruppe  von  Künstlern  unentbehrlich. 

Und  so  wie  kein  Heil  in  einer  Form  eines  einzelnen  Künstlers  zu 
suchen  ist,  so  auch  nicht  in  dieser  Gruppenform.  Für  jede  Gruppe  ist 
ihre  Form  die  beste,  da  sie  am  besten  das  verkörpert,  was  sie  zu  ver- 
künden verpflichtet  ist.  Man  sollte  aber  nicht  daraus  schließen,  daß 
diese  Form  für  alle  die  beste  ist  oder  sein  sollte.  Auch  hier  soll  volle 


19 


Freiheit  herrschen  und  man  soll  jede  Form  gelten  lassen,  man  soll 
jede  Form  für  richtig  (=  künstlerisch)  halten,  die  ein  äußerer  Aus- 
druck des  inneren  Inhaltes  ist.  Wenn  man  sich  anders  verhält,  so 
dient  man  nicht  mehr  dem  freien  Geiste  (weißer  Strahl),  sondern  der 
versteinerten  Schranke  (schwarze  Hand). 

Also  auch  hier  kommt  man  zu  demselben  Resultat,  welches  oben 
festgestellt  wurde:  nicht  die  Form  (Materie)  im  allgemeinen  ist  das 
wichtigste,  sondern  der  Inhalt  (Geist). 

Also  die  Form  kann  angenehm,  unangenehm  wirken,  schön,  unschön, 
harmonisch,  disharmonisch,  geschickt,  ungeschickt,  fein,  grob  und 
so  weiter  erscheinen,  und  doch  muß  sie  weder  wegen  den  für  positiv 
gehaltenen  Eigenschaften  noch  als  negativ  empfundenen  Qualitäten 
angenommen  oder  verworfen  werden.  Alle  diese  Begriffe  sind  voll- 
kommen relativ,  was  man  in  der  unendlichen  Wechselreihe  der  schon 
dagewesenen  Formen  auf  den  ersten  Blick  beobachtet. 
Und  ebenso  relativ  ist  also  die  Form  selbst.  So  ist  die  Form  auch  zu 
schätzen  und  aufzufassen.  Man  muß  sich  so  zu  einem  Werk  stellen, 
daß  auf  die  Seele  die  Form  wirkt.  Und  durch  die  Form  der  Inhalt 
(Geist,  innerer  Klang).  Sonst  erhebt  man  das  Relative  zum  Abso- 
luten. 

Im  praktischen  Leben  wird  man  kaum  einen  Menschen  finden, 
welcher,  wenn  er  nach  Berlin  fahren  will,  den  Zug  in  Regensburg 
verläßt.  Im  geistigen  Leben  ist  das  Aussteigen  in  Regensburg  eine 
ziemlich  gewöhnliche  Sache.  Manchmal  will  sogar  der  Lokomotiv- 
führer nicht  weiter  fahren  und  die  sämtlichen  Reisenden  steigen  in 
Regensburg  aus.  Wie  viele,  die  Gott  suchten,  blieben  schließlich  bei 


20 


einer   geschnitzten   Figur    stehen!    Wie   viele,    die    Kunst    suchten, 
blieben  an  einer  Form  hängen,  die  ein  Künstler  für  seine  Zwecke 
gebraucht  hat,  sei  es  Giotto,  Raphael,  Dürer  oder  van  Gogh! 
Und  also  als  letzter  Schluß  muß  festgestellt  werden :  nicht  das  ist  das 
wichtigste,  ob  die  Form  persönlich,  national,  stilvoll  ist,  ob  sie  der 
Hauptbewegung  der  Zeitgenossen  entspricht  oder  nicht,  ob  sie  mit 
vielen  oder  wenigen  anderen  Formen  verwandt  ist  oder  nicht,  ob  sie 
ganz  einzeln  dasteht  oder  nicht,  sondern  das  wichtigste  in  der  Formfrage 
ist  das,  ob  die  Form  aus  der  inneren  Notwendigkeit  gewachsen  ist  oder  nicht? 
Das  Vorhandensein  der  Formen  in  der  Zeit  und  im  Raum  ist  ebenso 
aus  der  inneren  Notwendigkeit  der  Zeit  und  des  Raumes  zu  erklären. 
Deshalb  wird  es  im  letzten  Grunde  möglich  werden,  die  Merkmale 
der  Zeit  und  des  Volkes  herauszuschälen  und  schematisch  darzustellen. 
Und  je  größer  die  Epoche  ist,  das  heißt  je  größer  (quantitativ)  die 
Bestrebungen  zum  Geistigen  sind,  desto  reicher  in  der  Zahl  werden 
die  Formen  einerseits,  und  desto  größere  Gesamtströmungen  (Grup- 
penbewegungen) sind  zu  beobachten,  was  von  selbst  klar  ist. 
Diese   Merkmale   einer   großen   geistigen   Epoche    (die   prophezeit 
wurde  und  heute  in  einem  der  ersten  Anfangsstadien  sich  kund  gibt) 
sehen  wir  in  der  gegenwärtigen  Kunst.  Und  zwar : 


1  Das  heißt,  man  darf  nicht  aus  einer  Form  eine  Uniform  machen. 
Kunstwerke  sind  keine  Soldaten.  Eine  und  dieselbe  Form  kann 
also  wieder  auch  bei  demselben  Künstler  einmal  die  beste,  ein 
anderes  Mal  die  schlechteste  sein.  Im  ersten  Fall  ist  sie  auf  dem 
Boden  der  inneren  Notwendigkeit  gewachsen,  im  zweiten  -  auf 
dem  Boden  der  äußeren  Notwendigkeit:  aus  dem  Ehrgeiz  und  der 
Habsucht. 


21 


1.  eine  große  Freiheit,  die  manchem  grenzenlos  erscheint  und  die 

2.  den  Geist  hörbar  macht,  welchen 

3.  wir  mit  einer  ganz  besonders  starken  Kraft  sich  in  den  Dingen 
offenbaren  sehen,  welcher 

4.  alle  geistigen  Gebiete  sich  allmählich  zum  Werkzeug  nehmen  wird 
und  schon  nimmt,  woraus 

5.  er  auch  auf  jedem  geistigen  Gebiete,  also  auch  in  der  plastischen 
Kunst  (speziell  in  der  Malerei)  viele  einzelnstehende  und  Gruppen 
umfassende  Ausdrucksmittel  (Formen)  schafft  und 

6.  welchem  heute  die  ganze  Vorratskammer  zur  Verfügung  steht, 
das  heißt  es  wird  jede  Materie,  von  der  «härtesten»  bis  zu  der  nur 
zweidimensional  lebenden  (abstrakten),  als  Formelement  angewendet, 
ad  1.  Was  die  Freiheit  anlangt,  so  drückt  sie  sich  aus  im  Streben  zur 
Befreiung  von  den  schon  ihr  Ziel  verkörpert  habenden  Formen,  das 
heißt,  von  den  alten  Formen,  im  Streben  zum  Schaffen  der  neuen 
und  unendlich  mannigfaltigen  Formen. 

ad  2.  Das  unwillkürliche  Suchen  nach  den  äußersten  Grenzen  der 
Ausdrucksmittel  der  heutigen  Epoche  (Ausdrucksmittel  der  Per- 
sönlichkeit, des  Volkes,  der  Zeit)  ist  andererseits  ein  Unterordnen 
der  scheinbar  zügellosen  Freiheit,  welches  vom  Zeitgeiste  bestimmt 
wird,  und  eine  Präzisierung  der  Richtung,  in  welcher  das  Suchen  ge- 
schehen muß.  Der  unter  einem  Glas  in  allen  Richtungen  laufende 
kleine  Käfer  glaubt  eine  unbeschränkte  Freiheit  vor  sich  zu  sehen. 
Er  stößt  aber  in  einer  gewissen  Entfernung  auf  das  Glas :  sehen  kann 
er  weiter,  aber  gehen  nicht.  Und  die  Bewegung  des  Glases  nach 
vorwärts  gibt  ihm  die  Möglichkeit,  weiteren  Raum  zu  durchlaufen 


22 


Und  seine  Hauptbewegung  wird  von  der  lenkenden  Hand  bestimmt. 
-  So  wird  auch  unsere  sich  vollkommen  frei  schätzende  Epoche  auf 
bestimmte  Grenzen  stoßen,  die  aber  «morgen»  verschoben  werden. 
ad  3.  Diese  scheinbar  zügellose  Freiheit  und  das  Eingreifen  des 
Geistes  entspringt  aus  der  Tatsache,  daß  wir  in  jedem  Ding  den 
Geist,  den  inneren  Klang  zu  fühlen  beginnen.  Und  gleichzeitig  wird 
diese  beginnende  Fähigkeit  zu  einer  reiferen  Frucht  der  scheinbar 
zügellosen  Freiheit  und  des  eingreifenden  Geistes. 
ad.  4.  Hier  können  wir  nicht  die  bezeichneten  Wirkungen  auf  allen 
anderen  geistigen  Gebieten  zu  präzisieren  versuchen.  Doch  soll  es 
jedem  von  selbst  klar  werden,  daß  das  Mitwirken  der  Freiheit  und 
des  Geistes  früher  oder  später  sich  überall  abspiegeln  wird.1 
ad.  5.  In  der  bildenden  Kunst  (ganz  besonders  in  der  Malerei)  be- 
gegnen wir  heute  einem  auffallenden  Reichtum  der  Formen,  die  teils 
als  Formen  der  einzeln  stehenden  großen  Persönlichkeiten  erscheinen, 
teils  ganze  Gruppen  von  Künstlern  in  einem  großen  und  vollkommen 
präzis  dahinwallenden  Strom  mitreißen. 

Und  die  große  Verschiedenheit  dieser  Formen  läßt  doch  leicht  das 
gemeinsame  Streben  erkennen.  Und  gerade  in  der  Massenbewegung 
läßt  sich  heute  der  alles  umfassende  Formgeist  erkennen.  Und  so 
genügt  es,  wenn  man  sagt :  alles  ist  erlaubt.  Das  heute  Erlaubte  kann 
doch  nicht  überschritten  werden.  Das  heute  Verbotene  bleibt  uner- 
schütterlich stehen. 
Und  man  sollte  sich  keine  Grenzen  stellen,  da  sie  ohnehin  gestellt 

1  Etwas  näher  habe  ich  diese  Frage  in  meiner  Schrift  Über  das  Geistige 
in  der  Kunst  erörtert. 


23 


sind.  Das  gilt  nicht  nur  für  den  Absender  (Künstler)  sondern  auch 
für  den  Empfänger  (Beschauer).  Er  kann  und  muß  dem  Künstler 
folgen,  und  keine  Angst  sollte  er  haben,  daß  er  auf  Irrwege  geleitet 
wird.  Der  Mensch  kann  sogar  physisch  sich  nicht  schnurgerade 
bewegen  (die  Feld-  und  Wiesenpfade!)  und  noch  weniger  geistig. 
Und  gerade  unter  den  geistigen  Wegen  ist  oft  der  schnurgerade  der 
lange,  da  er  falsch  ist,  und  der  als  falsch  erscheinende  ist  oft  der 
richtigste. 

Das  zum  lauten  Sprechen  gebrachte  «Gefühl»  wird  früher  oder  später 
den  Künstler  und  ebenso  den  Beschauer  richtig  leiten.  Das  ängstliche 
Sichhalten  an  einer  Form  führt  schließlich  unvermeidlich  in  eine 
Sackgasse.  Das  offene  Gefühl  -  zur  Freiheit.  Das  erste  ist  das  Folgen 
der  Materie.  Das  zweite  -  dem  Geiste :  der  Geist  schafft  eine  Form 
und  geht  zu  weiteren  über. 

ad.  6.  Das  auf  einen  Punkt  (sei  es  Form  oder  Inhalt)  gerichtete  Auge 
kann  unmöglich  eine  große  Fläche  übersehen.  Das  auf  der  Ober- 
fläche herumstreifende  unaufmerksame  Auge  übersieht  diese  große 
Fläche  oder  einen  Teil  derselben,  bleibt  aber  an  den  äußeren  Ver- 
schiedenheiten hängen  und  verliert  sich  in  Widersprüchen.  Der  Grund 
dieser  Widersprüche  liegt  in  der  Verschiedenheit  der  Mittel,  die  der 
heutige  Geist  aus  der  Vorratskammer  der  Materie  scheinbar  planlos 
herausreißt.  «Anarchie»  nennen  viele  den  gegenwärtigen  Zustand 
der  Malerei.  Dasselbe  Wort  wird  schon  hier  und  da  auch  bei  der 
Bezeichnung  des  gegenwärtigen  Zustandes  in  der  Musik  gebraucht. 
Darunter  versteht  man  fälschlich  ein  planloses  Umwerfen  und  Unord- 
nung. Die  Anarchie  ist  Planmäßigkeit  und  Ordnung,  welche  nicht 


24 


durch  eine  äußere  und  schließlich  versagende  Gewalt  hergestellt  werden, 
sondern  durch  das  Gefühl  des  Guten  geschaffen  werden.  Also  auch  hier 
werden  Grenzen  gestellt,  die  aber  als  innere  bezeichnet  werden  müs- 
sen und  die  äußeren  ersetzen  müssen.  Und  auch  diese  Grenzen  werden 
immer  erweitert,  wodurch  die  immer  zunehmende  Freiheit  entsteht, 
die  ihrerseits  freie  Bahn  schafft  für  die  weiteren  Offenbarungen. 
Die  gegenwärtige  Kunst,  die  in  diesem  Sinne  richtig  als  anarchistisch 
zu  bezeichnen  ist,  spiegelt  nicht  nur  den  schon  eroberten  geistigen 
Standpunkt  ab,  sondern  sie  verkörpert  als  eine  materialisierende  Kraft 
das  zur  Offenbarung  gereifte  Geistige. 

Die  vom  Geiste  aus  der  Vorratskammer  der  Materie  herausgerissenen 
Verkörperungsformen  lassen  sich  leicht  zwischen  zwei  Pole  ordnen. 
Diese  zwei  Pole  sind : 

1.  die  große  Abstraktion, 

2.  die  große  Realistik. 

Diese  zwei  Pole  eröffnen  %wei  Wege,  die  schließlich  %u  einem  Ziel 
führen. 

Zwischen  diesen  zwei  Polen  liegen  viele  Kombinationen  der  ver- 
schiedenen Zusammenklänge  des  Abstrakten  mit  dem  Realen. 
Diese  beiden  Elemente  waren  in  der  Kunst  immer  vorhanden,  wobei 
sie  als  das  «Reinkünstlerische»  und  das  «Gegenständliche»  zu  be- 
zeichnen waren.  Das  erste  drückte  sich  im  zweiten  aus,  wobei  das 
zweite  dem  ersten  diente.  Es  war  ein  verschiedenartiges  Balancieren, 
welches  scheinbar  im  absoluten  Gleichgewicht  den  Höhepunkt  des 
Idealen  zu  erreichen  suchte. 
Und  es  scheint,  daß  man  heute  in  diesem  Ideal  kein  Ziel  mehr  findet, 


25 


daß  der  die  Schalen  der  Waage  haltende  Hebel  verschwunden  ist  und 
daß  beide  Schalen  als  selbständige,  voneinander  unabhängige  Ein- 
heiten ihre  Existenzen  getrennt  zu  führen  beabsichtigen.  Und  auch 
in  diesem  Zerbrechen  der  idealen  Waage  sieht  man  «Anarchistisches». 
Dem  angenehmen  Ergänzen  des  Abstrakten  durch  das  Gegenständ- 
liche und  umgekehrt  hat  die  Kunst  scheinbar  ein  Ende  bereitet. 
Einerseits  wird  dem  Abstrakten  die  divertierende  Stütze  im  Gegen- 
ständlichen genommen  und  der  Beschauer  fühlt  sich  in  der  Luft 
schweben.  Man  sagt:  die  Kunst  verliert  den  Boden.  Andererseits 
wird  dem  Gegenständlichen  die  divertierende  Idealisierung  im  Ab- 
strakten (das  «künstlerische»  Element)  genommen  und  der  Beschauer 
fühlt  sich  an  den  Boden  genagelt.  Man  sagt :  die  Kunst  verliert  das  Ideal. 
Diese  Vorwürfe  wachsen  aus  dem  mangelhaft  entwickelten  Gefühl. 
Die  Gewohnheit,  der  Form  die  Hauptaufmerksamkeit  zu  schenken 
und  die  daraus  fließende  Art  des  Beschauers,  das  heißt  das  Hängen 
an  der  gewohnten  Form  des  Gleichgewichtes,  sind  die  verblendenden 
Kräfte,  die  dem  freien  Gefühl  keine  freie  Bahn  lassen. 
Die  erwähnte,  erst  keimende  große  Realistik  ist  ein  Streben,  aus  dem 
Bilde  das  äußerliche  Künstlerische  zu  vertreiben  und  den  Inhalt  des 
Werkes  durch  einfache  («unkünstlerische»)  Wiedergabe  des  einfachen 
harten  Gegenstandes  zu  verkörpern. 

Die  in  dieser  Art  aufgefaßte  und  im  Bilde  fixierte  äußere  Hülse 
des  Gegenstandes  und  das  gleichzeitige  Streichen  der  gewohnten 
aufdringlichen  Schönheit  entblößen  am  sichersten  den  inneren  Klang 
des  Dinges.  Gerade  durch  diese  Hülse  bei  diesem  Reduzieren  des 
«Künstlerischen»   auf  das   Minimum   klingt  die   Seele   des   Gegen- 


26 


Standes  am  stärksten  heraus,  da  die  äußere  wohlschmeckende  Schön- 
heit nicht  mehr  ablenken  kann.1 

Und  das  ist  nur  darum  möglich,  weil  wir  immer  weiter  kommen,  auf 
dem  Wege,  die  ganze  Welt  so,  wie  sie  ist,  also  in  keiner  verschönenden 
Interpretation  hören  zu  können. 

Das  %um  Minimum  gebrachte  «Künstlerische»  muß  hier  als  das  am  stärksten 
wirkende  Abstrakte  erkannt  werden? 

Der  große  Gegensatz  zu  dieser  Realistik  ist  die  große  Abstraktion, 
die  aus  dem  Bestreben,  das  Gegenständliche  (Reale)  scheinbar  ganz 
auszuschalten,  besteht  und  den  Inhalt  des  Werkes  in  «unmateriellen» 
Formen  zu  verkörpern  sucht.  Das  in  dieser  Art  aufgefaßte  und  im 

1  Den  Inhalt  des  gewohnten  Schönen  hat  der  Geist  schon  absorbiert 
und  findet  keine  neue  Nahrung  darin.  Die  Form  dieses  gewohnten 
Schönen  gibt  dem  faulen  körperlichen  Auge  die  gewohnten  Ge- 
nüsse. Die  Wirkung  des  Werkes  bleibt  im  Bereiche  des  Körperlichen 
stecken.  Das  geistige  Erlebnis  wird  unmöglich.  So  bildet  oft  dieses 
Schöne  eine  Kraft,  die  nicht  zum  Geist,  sondern  vom  Geist  führt. 

2  Die  quantitative  Verminderung  des  Abstrakten  ist  also  der  qualitativen 
Vergrößerung  des  Abstrakten  gleich.  Hier  berührten  wir  eins  der 
wesentlichsten  Gesetze:  das  äußere  Vergrößern  eines  Ausdrucks- 
mittels führt  unter  Umständen  zum  Vermindern  der  inneren  Kraft 
desselben.  Hier  ist  2  +  1  weniger  als  2 — 1.  Dieses  Gesetz  offenbart 
sich  natürlich  auch  in  der  kleinsten  Ausdrucksform:  ein  Farben- 
fleck verliert  oft  an  der  Intensität  und  muß  an  der  Wirkung  ver- 
lieren -  durch  äußere  Vergrößerung  und  durch  die  äußere  Steige- 
rung der  Stärke.  Eine  besonders  gute  Farbenbewegung  entsteht 
oft  durch  das  Hemmen  derselben;  ein  schmerzlicher  Klang  kann 
durch  direkte  Süße  der  Farbe  erzielt  werden  undsoweiter.  Das  alles 
sind  Äußerungen  des  Gesetzes  des  Gegensatzes  in  seinen  weiteren 
Folgen.  Kurz  gesagt :  aus  der  Kombination  des  Gefühls  und  der  Wissenschaft 
entsteht  die  wahre  Form.  Hier  muß  ich  wieder  an  den  Koch  erinnern ! 
Die  gute  körperliche  Speise  entsteht  auch  aus  der  Kombination 
eines  guten  Rezeptes  (wo  alles  genau  in  Pfund  und  Gramm  bezeich- 


27 


Bild  fixierte  abstrakte  Leben  der  auf  das  Minimale  reduzierten  gegen- 
ständlichen Formen  und  also  das  auffallende  Vorwiegen  der  ab- 
strakten Einheiten  entblößt  am  sichersten  den  inneren  Klang  des 
Bildes.  Und  ebenso,  wie  in  der  Realistik  durch  das  Streichen  des  Ab- 
strakten der  innere  Klang  verstärkt  wird,  so  wird  auch  in  der  Abstrak- 
tion dieser  Klang  durch  das  Streichen  des  Realen  verstärkt.  Dort 
war  es  die  gewohnte  äußere  wohlschmeckende  Schönheit,  die  den 
Dämpfer  bildete.  Hier  ist  es  der  gewohnte  äußere  unterstützende 
Gegenstand. 

Zum  «Verständnis»  dieser  Art  Bilder  ist  auch  dieselbe  Befreiung 
wie  in  der  Realistik  nötig,  das  heißt  auch  hier  muß  es  möglich  werden, 
die  ganze  Welt,  so  wie  sie  ist,  ohne  gegenständliche  Interpretation 
hören  zu  können.  Und  hier  sind  diese  abstrahierten  oder  abstrakten 
Formen  (Linien,  Flächen,  Flecken  undsoweiter)  nicht  selbst  als 
solche  wichtig,  sondern  nur  ihr  innerer  Klang,  ihr  Leben.  So  wie  in 
der  Realistik  nicht  der  Gegenstand  selbst,  oder  seine  äußere  Hülse, 
sondern  sein  innerer  Klang,  Leben  wichtig  sind. 

Das  %um  Minimum  gebrachte  «Gegenständliche»  muß  in  der  Abstraktion  als 
das  am  stärksten  wirkende  Reale  erkannt  werden? 


net  ist)  und  aus  dem  lenkenden  Gefühl.  Ein  großes  Merkmal  unserer 
Zeit  ist  das  Aufgehen  des  Wissens :  die  Kunstwissenschaft  nimmt 
allmählich  den  ihr  gebührenden  Platz  ein.  Das  ist  der  kommende 
«Generalbaß»,  welchem  natürlich  eine  unendliche  Wechsel-  und 
Entwicklungsbahn  bevorsteht ! 

1  Also  am  anderen  Pol  treffen  wir  dasselbe  wie  eben  erwähnte 
Gesetz,  wonach  die  quantitative  Verminderung  der  qualitativen  Ver- 
größerung gleich  ist. 


28 


So  sehen  wir  schließlich:  wenn  in  der  großen  Realistik  das  Reale 
auffallend  groß  erscheint  und  das  Abstrakte  auffallend  klein  und  in 
der  großen  Abstraktion  dieses  Verhältnis  umgekehrt  zu  sein  scheint, 
so  sind  im  letzten  Grunde  (=  Ziele)  diese  zwei  Pole  einander  gleich. 
Zwischen  diesen  zwei  Antipoden  kann  das  Zeichen  des  Gleichnisses 
gestellt  werden : 
Realistik  =  Abstraktion 
Abstraktion  =  Realistik . 

Die  größte  Verschiedenheit  im  Äußeren  wird  %ur  größten  Gleichheit  im 
Inneren. 

Einige  Beispiele  werden  uns  aus  dem  Gebiet  der  Reflexion  in  das 
Gebiet  des  Greifbaren  versetzen.  Wenn  der  Leser  irgendeinen  Buch- 
staben dieser  Zeilen  mit  ungewohnten  Augen  anschaut,  das  heißt 
nicht  als  ein  gewohntes  Zeichen  eines  Teiles  eines  Wortes,  sondern 
erst  als  Ding,  so  sieht  er  in  diesem  Buchstaben  außer  der  praktisch- 
zweckmäßig vom  Menschen  geschaffenen  abstrakten  Form,  die  eine 
ständige  Bezeichnung  eines  bestimmten  Lautes  ist,  noch  eine  kör- 
perliche Form,  die  ganz  selbständig  einen  bestimmten  äußeren  und 
inneren  Eindruck  macht,  das  heißt  unabhängig  von  der  eben  er- 
wähnten abstrakten  Form.  In  diesem  Sinne  besteht  der  Buchstabe: 

1.  aus  der  Hauptform  =  Gesamterscheinung,  die,  sehr  grob  be- 
zeichnet, «lustig»,  «traurig»,  «strebend»,  «sinkend»,  «trotzig»,  «protzig» 
undsoweiter  erscheint; 

2.  besteht  der  Buchstabe  aus  einzelnen,  so  oder  anders  gebogenen 
Linien,  die  auch  jedesmal  einen  bestimmten  inneren  Eindruck  machen, 
das  heißt  ebenso  «lustig»,  «traurig»  undsoweiter  sind. 


29 


Wenn  der  Leser  diese  zwei  Elemente  des  Buchstabens  gefühlt  hat, 
so  entsteht  in  ihm  sofort  das  Gefühl,  welches  dieser  Buchstabe  als 
Wesen  mit  innerem  Leben  verursacht. 

Man  soll  hier  nicht  mit  der  Erwiderung  kommen,  daß  dieser  Buch- 
stabe auf  einen  Menschen  so,  auf  den  anderen  anders  wirkt.  Das  ist 
nebensächlich  und  verständlich.  Im  allgemeinen  gesagt,  wirkt  jedes 
Wesen  auf  verschiedene  Menschen  so  oder  anders.  Wir  sehen  nur, 
daß  der  Buchstabe  aus  zwei  Elementen  besteht,  die  doch  schließlich 
einen  Klang  ausdrücken.  Die  einzelnen  Linien  des  zweiten  Elementes 
können  «lustig»  sein  und  doch  kann  der  ganze  Eindruck  (Element  I) 
«traurig»  wirken  undsoweiter.  Die  einzelnen  Bewegungen  des 
zweiten  Elementes  sind  organische  Teile  des  ersten.  Ebensolche 
Konstruktionen  und  ebensolche  Unterordnungen  der  einzelnen 
Elemente  einem  Klang  beobachten  wir  in  jedem  Lied,  jedem  Klavier- 
stück, in  jeder  Symphonie.  Und  ganz  dieselben  Vorgänge  bilden 
eine  Zeichnung,  eine  Skizze,  ein  Bild.  Hier  offenbaren  sich  die  Ge- 
setze der  Konstruktion.  Für  uns  ist  augenblicklich  nur  eins  wichtig: 
der  Buchstabe  wirkt.  Und,  wie  gesagt,  ist  diese  Wirkung  doppelt: 

1 .  Der  Buchstabe  wirkt  als  ein  zweckmäßiges  Zeichen ; 

2.  er  wirkt  erst  als  Form  und  später  als  innerer  Klang  dieser  Form 
selbständig  und  vollkommen  unabhängig. 

Es  ist  uns  wichtig,  daß  diese  zwei  Wirkungen  in  keinem  gegenseitigen 
Zusammenhange  sind,  und  während  die  erste  Wirkung  eine  äußere 
ist,  hat  die  zweite  einen  inneren  Sinn. 

Der  Schluß,  den  wir  daraus  ziehen,  ist  der,  daß  die  äußere  Wirkung 
eine  andere  sein  kann,  als  die  innere,  die  durch  den  inneren  Klang  verursacht 


30 


wird,  was  eins  der  mächtigsten  und  tiefsten  Ausdrucksmittel  in  jeder 
Komposition  ist.1 

Nehmen  wir  noch  ein  Beispiel.  Wir  sehen  in  diesem  selben  Buch  einen 
Gedankenstrich.  Dieser  Gedankenstrich,  wenn  er  an  der  richtigen 
Stelle  angebracht  ist  -  so  wie  ich  es  hier  mache  -,  ist  eine  Linie 
mit  einer  praktisch-zweckmäßigen  Bedeutung.  Wollen  wir  diese  kleine 
Linie  verlängern  und  sie  doch  an  einer  richtigen  Stelle  lassen:  der 
Sinn  der  Linie  bleibt,  ebenso  wie  ihre  Bedeutung,  die  aber  durch  das 
Ungewohnte  dieser  Verlängerung  eine  undefinierbare  Färbung  gibt, 
wobei  der  Leser  sich  fragt,  warum  die  Linie  so  lang  ist  und  ob 
diese  Länge  nicht  einen  praktisch-zweckmäßigen  Zweck  hat.  Stel- 
len wir  dieselbe  Linie  an  einer  falschen  Stelle  (so  wie  -  ich  es  hier 
mache).  Das  richtig  Praktisch-Zweckmäßige  ist  verloren  und  nicht 
mehr  zu  finden,  der  Beiklang  der  Frage  ist  hoch  gewachsen.  Es  bleibt 
der  Gedanke  an  einen  Druckfehler,  das  heißt  an  das  entstellte  Praktisch- 
Zweckmäßige.  Hier  klingt  das  letztere  negativ.  Bringen  wir  dieselbe 
Linie  auf  einer  leeren  Seite  an,  zum  Beispiel  lang  und  geschweift. 
Dieser  Fall  ist  dem  letzten  sehr  ähnlich,  nur  denkt  man  (solange  die 
Hoffnung  einerErklärung  vorhanden  ist)an  das  richtigPraktisch-Zweck- 
mäßige.  Und  später  (wenn  keineErklärungzu  finden  ist)  an  das  Negative. 
Solange  aber  diese  oder  jene  Linie  im  Buch  bleibt,  ist  das  Praktisch- 
Zweckmäßige  nicht  definitiv  zum  Ausschalten  zu  bringen. 

1  Hier  kann  ich  solche  großen  Probleme  nur  im  Vorübergehen 
streifen.  Der  Leser  braucht  sich  nur  weiter  in  diese  Fragen  ver- 
tiefen und  das  Gewaltige,  Geheimnisvolle,  unüberwindlich  Ver- 
lockende zum  Beispiel  dieser  letzten  Schlußfolge  wird  sich  von 
selbst  einstellen. 


31 


Bringen  wir  also  eine  ähnliche  Linie  in  ein  Milieu,  welches  das 
Praktisch-Zweckmäßige  vollkommen  zu  vermeiden  vermag.  Zum 
Beispiel  auf  eine  Leinwand.  Solange  der  Beschauer  (es  ist  kein 
Leser  mehr)  die  Linie  auf  der  Leinwand  als  ein  Mittel  zur  Abgrenzung 
eines  Gegenstandes  ansieht,  unterliegt  er  auch  hier  dem  Eindruck  des 
Praktisch-Zweckmäßigen.  In  dem  Augenblick  aber,  in  welchem  er 
sich  sagt,  daß  der  praktische  Gegenstand  auf  dem  Bilde  meistens  nur 
eine  zufällige  und  nicht  eine  rein  malerische  Rolle  spielte,  und  daß 
die  Linie  manchmal  eine  ausschließlich  rein  malerische  Bedeutung 
hatte1,  in  diesem  Augenblick  ist  die  Seele  des  Beschauers  reif,  den 
reinen  inneren  Klang  dieser  Linie  zu  empfinden. 

Ist  denn  dadurch  der  Gegenstand,  das  Ding  aus  dem  Bilde  vertrieben  ? 
Nein.  Die  Linie  ist,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  ein  Ding,  welches 
ebenso  einen  praktisch-zweckmäßigen  Sinn  hat,  wie  ein  Stuhl,  ein 
Brunnen,  ein  Messer,  ein  Buch  undsoweiter.  Und  dieses  Ding  wird 
in  dem  letzten  Beispiel  als  ein  reines  malerisches  Mittel  gebraucht 
ohne  die  andern  Seiten,  die  es  sonst  besitzen  kann  -  also  in  seinem 
reinen  inneren  Klang. 

Wenn  also  im  Bild  eine  Linie  von  dem  Ziel,  ein  Ding  zu  bezeichnen, 
befreit  wird  und  selbst  als  ein  Ding  fungiert,  wird  ihr  innerer  Klang 
durch  keine  Nebenrollen  abgeschwächt  und  bekommt  ihre  volle 
innere  Kraft. 

So  kommen  wir  zur  Folge,  daß  die  reine  Abstraktion  sich  auch  der 
Dinge  bedient,  die  ihr  materielles  Dasein  führen,  geradeso,  wie  die 

1  Van  Gogh  hat  mit  besonderer  Kraft  die  Linie  als  solche  gebraucht, 
ohne  damit  das  Gegenständliche  irgendwie  markieren  zu  wollen. 


32 


© 


% 


reine  Realistik.  Die  größte  Verneinung  des  Gegenständlichen  und 
ihre  größte  Behauptung  bekommen  wieder  das  Zeichen  des  Gleich- 
nisses. Und  dieses  Zeichen  wird  wieder  durch  das  gleiche  Ziel  in 
beiden  Fällen  berechtigt:  durch  das  Verkörpern  desselben  inneren 
Klanges. 

Hier  sehen  wir,  daß  es  also  im  Prinzip  gar  keine  Bedeutung  hat,  ob  eine 
reale  oder  abstrakte  Form  vom  Künstler  gebraucht  wird. 
Da  beide  Formen  innerlich  gleich  sind.  Die  Wahl  muß  dem  Künstler  über- 
lassen werden,  welcher  selbst  am  besten  wissen  muß,  durch  welches 
Mittel  er  am  klarsten  den  Inhalt  seiner  Kunst  materialisieren  kann. 
Abstrakt  gesagt :  Es  gibt  keine  Frage  der  Form  im  Prinzip. 
Und  tatsächlich:  wenn  es  eine  prinzipielle  Frage  der  Form  gäbe,  so 
würde  auch  eine  Antwort  möglich  sein.  Und  jeder,  der  diese  Antwort 
kennt,  würde  Kunstwerke  schaffen  können.  Das  heißt,  zur  selben 
Zeit  würde  die  Kunst  nicht  mehr  existieren.  Praktisch  gesagt:  Die 
Frage  der  Form  verändert  sich  in  die  Frage:  welche  Form  soll  ich 
in  diesem  Falle  anwenden,  um  zum  notwendigen  Ausdruck  meines 
inneren  Erlebnisses  zu  gelangen?  Die  Antwort  ist  in  diesem  Falle 
immer  wissenschaftlich  präzis,  absolut  und  für  andere  Fälle  relativ. 
Das  heißt  eine  Form,  die  die  beste  in  einem  Falle  ist,  kann  in 
einem  anderen  Falle  die  schlechteste  sein:  alles  hängt  hier  von  der 
inneren  Notwendigkeit  ab,  die  allein  eine  Form  richtig  machen  kann. 
Und  nur  dann  kann  eine  Form  eine  Bedeutung  für  mehrere  haben, 
wenn  die  innere  Notwendigkeit  unter  dem  Druck  der  Zeit  und  des 
Raumes  einzelne  Formen  wählt,  die  miteinander  verwandt  sind. 
Dieses  ändert  aber  an  der  relativen  Bedeutung  der  Form  gar  nichts, 


34 


da  die  auch  in  diesem  Falle  richtige  Form  in  vielen  anderen  Fällen 
falsch  sein  kann. 

Die  sämtlichen  Regeln,  die  schon  in  der  früheren  Kunst  entdeckt 
wurden  und  die  später  entdeckt  werden  und  auf  welche  die  Kunst- 
historiker einen  übertrieben  großen  Wert  legen,  sind  keine  allgemei- 
nen Regeln:  sie  führen  nicht  zur  Kunst.  Wenn  ich  die  Regeln  des 
Tischlers  kenne,  so  werde  ich  immer  einen  Tisch  machen  können. 
Der  aber,  welcher  die  vermutlichen  Regeln  des  Malers  kennt,  darf 
nicht  sicher  sein,  daß  er  ein  Kunstwerk  schaffen  kann. 
Diese  vermutlichen  Regeln,  die  bald  in  der  Malerei  zu  einem  «Gene- 
ralbaß» führen  werden,  sind  nichts  als  Erkenntnis  der  inneren  Wir- 
kung der  einzelnen  Mittel  und  ihrer  Kombinierung.  Es  wird  aber  nie 
Regeln  geben,  durch  welche  eine  gerade  in  einem  bestimmten  Falle 
notwendige  Anwendung  der  Formwirkung  und  Kombinierung  der 
einzelnen  Mittel  zu  erreichen  sein  wird. 

Das  praktische  Resultat:  man  darf  nie  einem  Theoretiker  (Kunsthistoriker, 
Kritiker  undsoweiter)  glauben,  wenn  er  behauptet,  daß  er  irgendeinen  objek- 
tiven Fehler  im  Werke  entdeckt  hat. 

Und:  das  Einzige,  was  der  Theoretiker  mit  Recht  behaupten  kann, 
ist  das,  daß  er  bis  jetzt  diese  oder  jene  Anwendung  des  Mittels  noch 
nicht  gekannt  hat.  Und:  die  Theoretiker,  die,  von  der  Analyse  der 
schon  dagewesenen  Formen  ausgehend,  ein  Werk  tadeln  oder  loben, 
sind  die  schädlichsten  Irreführer,  die  zwischen  dem  Werk  und  dem 
naiven  Beschauer  eine  Mauer  bilden. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  (welcher  leider  meistens  der  einzig  mög- 
liche ist)  ist  die  Kunstkritik  der  schlimmste  Feind  der  Kunst. 


35 


Der  ideale  Kunstkritiker  wäre  also  nicht  der  Kritiker,  welcher  die 
»Fehler»1,  «Verirrungen»,  «Unkenntnisse»,  «Entlehnungen»  undsoweiter 
zu  entdecken  suchen  würde,  sondern  der,  welcher  %u  fühlen  suchen 
würde,  wie  diese  oder  jene  Form  innerlich  wirkt  und  dann  sein  Gesamt- 
erlebnis dem  Publikum  ausdrucksvoll  mitteilen  würde. 
Hier  würde  natürlich  der  Kritiker  eine  Dichterseele  brauchen,  da 
der  Dichter  objektiv  fühlen  muß,  um  subjektiv  sein  Gefühl  zu  ver- 
körpern. Das  heißt  der  Kritiker  würde  eine  schöpferische  Kraft  be- 
sitzen müssen.  In  Wirklichkeit  sind  aber  die  Kritiker  sehr  oft  miß- 
lungene Künstler,  die  am  Mangel  eigener  schöpferischer  Kraft 
scheitern  und  deshalb  sich  berufen  fühlen,  die  fremde  schöpferische 
Kraft  zu  lenken. 

Die  Formfrage  ist  für  die  Künstler  oft  schädlich  auch  darum,  weil 
unbegabte  Menschen  (das  heißt  Menschen,  die  keinen  inneren  Trieb 
zur  Kunst  haben),  sich  der  fremden  Formen  bedienend,  Werke  vor- 
täuschen und  dadurch  eine  Verwirrung  verursachen. 
Hier  muß  ich  präzis  sein.  Eine  fremde  Form  zu  gebrauchen  heißt 
in  der  Kritik,  im  Publikum  und  oft  bei  den  Künstlern  ein  Verbrechen, 
ein  Betrug.  Das  ist  aber  in  Wirklichkeit  nur  dann  der  Fall,  wenn 
der  «Künstler»  diese  fremden  Formen  ohne  innere  Notwendigkeit 
braucht  und  dadurch  ein  lebloses,  totes  Scheinwerk  schafft.  Wenn  aber 
der  Künstler  zum  Ausdruck  seiner  inneren  Regungen  und  Erleb- 
nisse sich  einer  oder  der  andern  «fremden»  Form,  der  inneren  Wahr- 


1  Zum  Beispiel  «anatomische  Fehler»,  «Verzeichnungen»  und  der- 
gleichen oder  später  Verstöße  gegen  den  kommenden  «General- 
baß». 


36 


heit  entsprechend,  bedient,  so  übt  er  sein  Recht  aus,  sich  jeder  ihm 
innerlich  nötigen  Form  zu  bedienen  -sei  es  ein  Gebrauchsgegenstand,  ein 
Himmelskörper  oder  eine  durch  einen  andern  Künstler  schon  künst- 
lerisch materialisierte  Form. 

Diese  ganze  Frage  der  «Nachahmung»1  hat  auch  lange  nicht  die  Be- 
deutung, die  ihr  wieder  durch  die  Kritik  beigemessen  wird.2  Das 
Lebende  bleibt.  Das  Tote  verschwindet. 

Und  wirklich:  je  weiter  wir  unsern  Blick  zur  Vergangenheit  wenden, 
desto  weniger  finden  wir  Vortäuschungen,  Scheinwerke.  Sie  sind 
geheimnisvoll  verschwunden.  Nur  die  echten  künstlerischen  Wesen 
bleiben,  das  heißt  die,  die  in  dem  Körper  (Form)  eine  Seele  (Inhalt) 
besitzen. 

Wenn  der  Leser  weiter  jeden  beliebigen  Gegenstand  auf  seinem 
Tisch  anschaut  (sei  es  nur  ein  Zigarrenstummel),  so  wird  er  sofort 
dieselben  zwei  Wirkungen  bemerken.  Es  sei  wo  und  wann  es  will 
(in  der  Straße,  Kirche,  im  Himmel,  Wasser,  im  Stall  oder  Wald), 
überall  werden  die  zwei  Wirkungen  sich  herausstellen  und  über- 
all wird  der  innere  Klang  vom  äußeren  Sinn  unabhängig  sein. 


1  Wie  phantastisch  die  Kritik  auf  diesem  Gebiete  ist,  weiß  jeder 
Künstler.  Die  Kritik  weiß,  daß  die  tollsten  Behauptungen  gerade 
hier  vollkommen  straflos  angewendet  werden  können.  Zum  Bei- 
spiel vor  kurzem  wurde  die  Negerin  von  Eugen  Kahler,  eine  gute 

naturalistische  Atelierstudie,  mit Gauguin  verglichen.  Die 

einzige  Veranlassung  zu  diesem  Vergleich  konnte  nur  die  braune 
Haut  des  Modells  sein  (siehe  Münchner  Neueste  Nachrichten,  12.  Ok- 
tober 1911)  undsoweiter. 

2  Und  dank  der  herrschenden  Überschätzung  dieser  Frage  wird 
der  Künstler  unbestraft  diskreditiert. 


37 


Die  Welt  klingt.  Sie  ist  ein  Kosmos  der  geistig  wirkenden  Wesen.  So  ist  die 
tote  Materie  lebender  Geist. 

Wenn  wir  aus  der  selbständigen  Wirkung  des  inneren  Klanges  die 
uns  hier  nötige  Folge  ziehen,  so  sehen  wir,  daß  dieser  innere  Klang 
an  Stärke  gewinnt,  wenn  der  ihn  unterdrückende  äußere  praktisch- 
zweckmäßige Sinn  entfernt  wird.  Hier  liegt  die  eine  Erklärung  der 
ausgesprochenen  Wirkung  einer  Kinderzeichnung  auf  den  unpartei- 
ischen, untraditionellen  Beschauer.  Das  Praktisch-Zweckmäßige  ist 
dem  Kind  fremd,  da  es  jedes  Ding  mit  ungewohnten  Augen  an- 
schaut und  noch  die  ungetrübte  Fähigkeit  besitzt,  das  Ding  als 
solches  aufzunehmen.  Das  Praktisch-Zweckmäßige  wird  erst  später 
durch  viele,  oft  traurige  Erfahrungen  langsam  kennengelernt.  So 
entblößt  sich  in  jeder  Kinderzeichnung  ohne  Ausnahme  der  innere 
Klang  des  Gegenstandes  von  selbst.  Die  Erwachsenen,  besonders  die 
Lehrer  bemühen  sich,  dem  Kinde  das  Praktisch-Zweckmäßige  auf- 
zudrängen und  kritisieren  dem  Kinde  seine  Zeichnung  gerade  von 
diesem  flachen  Standpunkt  aus :  «dein  Mensch  kann  nicht  gehen,  weil 
er  nur  ein  Bein  hat»,  «auf  deinem  Stuhl  kann  man  nicht  sitzen,  da  er 
schief  ist»  undsoweiter.1  Das  Kind  lacht  sich  selbst  aus.  Es  sollte  aber 
weinen.  Nun  hat  das  begabte  Kind  außer  der  Fähigkeit,  das  Äußere  zu 
streichen,  noch  die  Macht,  das  gebliebene  Innere  in  eine  Form  zu 
kleiden,  in  welcher  dieses  gebliebene  Innere  am  stärksten  zum  Vorschein 
kommt  und  also  wirkt  (wie  man  auch  zu  sagen  pflegt  «spricht»!). 


1  Wie  es  so  oft  der  Fall  ist:  man  belehrt  die,  die  belehren  sollten. 
Und  später  wundert  man  sich,  daß  aus  den  begabten  Kindern 
nichts  wird. 


38 


Jede  Form  ist  vielseitig.  Man  entdeckt  an  ihr  immer  und  immer 
andere  glückliche  Eigenschaften.  Hier  will  ich  aber  nur  eine  augen- 
blicklich uns  wichtige  Seite  der  guten  Kinderzeichnung  betonen:  die 
kompositioneile.  Hier  springt  uns  ins  Auge  die  unbewußte,  wie  von 
selbst  gewachsene  Anwendung  der  beiden  oben  erwähnten  Teile 
des  Buchstabens,  das  heißt  1.  die  Gesamterscheinung,  die  sehr  oft 
präzis  ist  und  hier  und  da  bis  ins  Schematische  steigt,  und  2.  die 
einzelnen,  die  große  Form  bildenden  Formen,  von  denen  jede  ein 
eigenes  Leben  führt.  (So  zum  Beispiel  die  «Araber»  von  Lydia 
Wieber.)  Es  ist  eine  unbewußte,  enorme  Kraft  im  Kinde,  die  sich 
hier  äußert  und  die  das  Kinderwerk  dem  Werke  des  Erwachsenen 
gleicfrhoch  (und  oft  viel  höher!)  stellt.1 

Für  jedes  Glühen  gibt  es  ein  Abkühlen.  Für  jede  frühe  Knospe  -  der 
drohende  Frost.  Für  jedes  junge  Talent  -  eine  Akademie.  Es  sind 
keine  tragischen  Worte,  sondern  eine  traurige  Tatsache.  Die  Akade- 
mie ist  das  sicherste  Mittel,  der  beschriebenen  Kindeskraft  den  Garaus 
zu  machen.  Sogar  das  sehr  große,  starke  Talent  wird  in  dieser  Be- 
ziehung von  der  Akademie  mehr  oder  weniger  gebremst.  Die  schwä- 
cheren Begabungen  gehen  zu  Hunderten  zugrunde.  Ein  akademisch 
gebildeter,  mittelmäßig  begabter  Mensch  zeichnet  sich  dadurch  aus, 
daß  er  das  Praktisch-Zweckmäßige  erlernt  hat  und  daß  er  das  Hören 
des  inneren  Klanges  verloren  hat.  So  ein  Mensch  liefert  eine  «kor- 
rekte» Zeichnung,  die  tot  ist. 


1  Auch  diese  verblüffende  Eigenschaft  der  kompositioneilen  Form 
besitzt  die  «Volkskunst».  (Siehe  zum  Beispiel  das  Pest-Votivbild 
aus  der  Kirche  in  Murnau.) 


39 


Wenn  ein  Mensch,  welcher  keine  künstlerische  Bildung  erworben 
hat  und  also  von  den  objektiven  künstlerischen  Kenntnissen  frei  ist, 
irgend  etwas  malt,  so  entsteht  nie  ein  leerer  Schein.  Hier  sehen  wir 
ein  Beispiel  des  Wirkens  der  inneren  Kraft,  die  nur  von  den  allgemeinen 
Kenntnissen  des  Praktisch- Zweckmäßigen  beeinflußt  wird. 
Da  aber  die  Anwendung  auch  dieses  Allgemeinen  hier  nur  beschränkt 
geschehen  kann,  so  wird  das  Äußere  auch  hier  (nur  weniger  als  bei 
dem  Kinde,  aber  doch  ausgiebig)  gestrichen  und  der  innere  Klang 
gewinnt  an  Kraft :  es  entsteht  keine  tote  Sache,  sondern  eine  lebende. 
Christus  sagte:  Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen,  denn  ihrer  ist 
das  Himmelreich. 

Der  Künstler,  der  sein  ganzes  Leben  in  vielem  dem  Kinde  gleicht, 
kann  oft  leichter  als  ein  anderer  zu  dem  inneren  Klang  der  Dinge 
gelangen.  Es  ist  in  dieser  Beziehung  ganz  besonders  interessant  zu 
sehen,  wie  der  Komponist  Arnold  Schönberg  die  malerischen  Mittel 
einfach  und  sicher  anwendet.  Ihn  interessiert  in  der  Regel  nur  dieser 
innere  Klang.  Alle  Ausschmückungen  und  Feinschmeckereien  läßt  er 
ohne  Beachtung  und  die  «ärmste»  Form  wird  in  seinen  Händen  die 
reichste.  (Siehe  sein  Selbstporträt.) 

Hier  liegt  die  Wurzel  der  neuen  großen  Realistik.  Die  vollkommen 
und  ausschließlich  einfach  gegebene  äußere  Hülse  des  Dinges  ist 
schon  eine  Absonderung  des  Dinges  vom  Praktisch-Zweckmäßigen 
und  das  Herausklingen  des  Inneren.  Henri  Rousseau,  der  als  Vater 
dieser  Realistik  zu  bezeichnen  ist,  hat  mit  einer  einfachen  und  über- 
zeugenden Geste  den  Weg  gezeigt. 
Henri  Rousseau  hat  den  neuen  Möglichkeiten  der  Einfachheit  den 


40 


Weg  eröffnet.  Dieser  Wert  seiner  vielseitigen  Begabung  ist  uns 
augenblicklich  der  wichtigste. 

Die  Gegenstände  oder  der  Gegenstand  (das  heißt  er  und  die  ihn 
bildenden  Teile)  müssen  in  irgendeinem  Zusammenhang  stehen. 
Dieser  Zusammenhang  kann  auffallend  harmonisch  sein  oder  auf- 
fallend disharmonisch.  Es  kann  hier  eine  schematisierte  Rhythmik 
angewendet  werden,  oder  eine  versteckte. 

Der  unaufhaltsame  Drang  von  heute,  das  rein  Kompositionelle  zu 
offenbaren,  die  künftigen  Gesetze  unserer  großen  Epoche  zu  ent- 
schleiern ist  die  Kraft,  die  die  Künstler  auf  verschiedenen  Wegen  zu 
einem  Ziele  zu  streben  zwingt. 

Es  ist  natürlich,  daß  der  Mensch  sich  in  einem  solchen  Falle  an  das 
Regelmäßigste  und  zugleich  Abstrakteste  wendet.  So  sehen  wir,  daß 
durch  verschiedene  Kunstperioden  das  Dreieck  als  Konstruktions- 
basis gebraucht  wurde.  Dieses  Dreieck  wurde  oft  als  ein  gleichseitiges 
angewendet,  und  so  kam  auch  die  Zahl  zu  ihrer  Bedeutung,  das 
heißt  das  ganz  abstrakte  Element  des  Dreiecks.  In  dem  heutigen 
Suchen  nach  abstrakten  Verhältnissen  spielt  die  Zahl  eine  besonders 
große  Rolle.  Jede  Zahlformel  ist  wie  ein  eisiger  Berggipfel  kühl  und 
als  höchste  Regelmäßigkeit  wie  ein  Marmorblock  fest.  Sie  ist  kalt 
und  fest,  wie  jede  Notwendigkeit.  Das  Suchen,  in  einer  Formel  das 
Kompositionelle  auszudrücken,  ist  der  Grund  des  Entstehens  des 
sogenannten  Kubismus.  Diese  «mathematische»  Konstruktion  ist 
eine  Form,  die  manchmal  bis  zum  letzten  Grade  der  Vernichtung  des 
materiellen  Zusammenhanges  der  Teile  des  Dinges  führen  muß 
und    in   konsequenter  Anwendung  führt.    (Zum  Beispiel  Picasso.) 


41 


Das  letzte  Ziel  auch  auf  diesem  Wege  ist,  ein  Bild  zu  schaffen,  das 
durch  eigene,  schematisch  konstruierte  Organe  zum  Leben  gebracht 
wird,  zum  Wesen  wird.  Wenn  diesem  Wege  im  allgemeinen  etwas 
vorgeworfen  werden  kann,  so  ist  es  nicht  anders,  als  daß  hier  eine  zu 
begrenzte  Anwendung  der  Zahl  ist.  Es  kann  alles  als  eine  mathe- 
matische Formel  oder  einfach  als  eine  Zahl  dargestellt  werden. 
Es  gibt  aber  verschiedene  Zahlen :  1  und  0,3333 ....  sind  gleich 
berechtigte,  gleich  lebende  innerlich  klingende  Wesen.  Warum  soll 
man  sich  mit  1  begnügen  ?  Warum  soll  man  0,333 ....  ausschließen? 
Damit  verbunden  stellt  sich  die  Frage:  warum  soll  man  durch  aus- 
schließliche Anwendung  von  Dreiecken  und  ähnlichen  geometrischen 
Formen  und  Körpern  den  künstlerischen  Ausdruck  schmälern?  Es 
soll  aber  wiederholt  werden,  daß  die  kompositioneilen  Bestrebungen 
der  «Kubisten»  in  einem  direkten  Zusammenhang  stehen  zu  der  Not- 
wendigkeit, rein  malerische  Wesen  zu  schaffen,  die  einerseits  im  Gegen- 
ständlichen und  durch  das  Gegenständliche  reden  und  durch  verschie- 
dene Kombinationen  mit  dem  mehr  oder  weniger  klingenden  Gegen- 
stand andererseits  schließlich  zur  reinen  Abstraktion  übergehen. 
Zwischen  der  rein  abstrakten  und  der  rein  realen  Komposition  lie- 
gen die  Kombinationsmöglichkeiten  der  abstrakten  und  realen  Ele- 
mente in  einem  Bilde.  Diese  Kombinationsmöglichkeiten  sind  groß 
und  mannigfaltig.  In  allen  Fällen  kann  das  Leben  des  Werkes  stark 
pulsieren  und  sich  also  zur  Formfrage  frei  verhalten. 
Die  Kombinationen  des  Abstrakten  mit  dem  Gegenständlichen,  die 
Wahl  zwischen  den  unendlichen  abstrakten  Formen  oder  im  gegen- 
ständlichen Material,  das  heißt  die  Wahl  der  einzelnen  Mittel  auf  beiden 


42 


Gebieten,  ist  und  bleibt  dem  inneren  Wunsch  des  Künsders  über- 
lassen. Die  heute  verpönte  oder  verachtete  Form,  die  scheinbar  ganz 
abseits  vom  großen  Strom  liegt,  wartet  nur  auf  ihren  Meister.  Diese 
Form  ist  nicht  tot,  sie  ist  bloß  in  eine  Art  Lethargie  versunken. 
Wenn  der  Inhalt,  der  Geist,  welcher  sich  nur  durch  diese  scheintote 
Form  offenbaren  kann,  reif  wird,  wenn  die  Stunde  seiner  Materialisa- 
tion geschlagen  hat,  so  tritt  er  in  diese  Form  ;und  wird  durch  sie 
sprechen. 

Und  speziell  der  Laie  sollte  nicht  mit  der  Frage  an  das  Werk  gehen : 
«was  hat  der  Künsder  nicht  gemacht?»  oder  anders  gesagt:  «wo 
erlaubt  sich  der  Künsder,  meine  Wünsche  zu  vernachlässigen?», 
sondern  sollte  sich  fragen:  «was  hat  der  Künsder  gemacht?»  oder: 
«welchen  seinen  inneren  Wunsch  hat  hier  der  Künsder  zum  Aus- 
druck gebracht?».  Ich  glaube  auch,  daß  die  Zeit  noch  kommen  wird, 
wo  auch  die  Kritik  ihre  Aufgabe  nicht  im  Suchen  des  Negativen, 
Fehlerhaften,  sondern  im  Suchen  und  Vermitteln  des  Positiven,  Rich- 
tigen finden  wird.  Eine  der  «wichtigen»  Sorgen  der  heutigen  Kritik 
der  abstrakten  Kunst  gegenüber  ist  die  Sorge,  wie  soll  man  denn 
in  dieser  Kunst  das  Falsche  vom  Richtigen  unterscheiden,  das  heißt 
größtenteils,  wie  soll  man  hier  das  Negative  entdecken  ?  Das  Ver- 
halten beim  Kunstwerk  gegenüber  sollte  ein  anderes  sein,  als  das 
Verhalten  zu  einem  Pferd,  welches  man  kaufen  will :  bei  dem  Pferd  deckt 
eine  wichtige  negative  Eigenschaft  alle  die  positiven  und  macht  es 
wertlos ;  beim  Werk  ist  das  Verhältnis  umgekehrt :  eine  wichtige  positive 
Eigenschaft  deckt  alle  die  negativen  und  macht  es  wertvoll. 
Wenn  dieser  einfache  Gedanke  einmal  berücksichtigt  wird,  so  wer- 


43 


den  von  selbst  die  prinzipiell-absoluten  Formfragen  fallen,  die  Form- 
frage wird  ihren  relativen  Wert  erhalten,  und  unter  anderem  wird  end- 
lich dem  Künstler  selbst  die  Wahl  der  Form  überlassen,  welche  ihm 
und  in  diesem  Werk  notwendig  ist. 

Später  kann  der  Leser  mit  dem  Künstler  zu  objektiven  Betrachtungen, 
zur  wissenschaftlichen  Analyse  übergehen.  Hier  findet  er  dann,  daß 
sämtliche  möglichen  Beispiele  einem  inneren  Rufe  gehorchen  -  Kom- 
position, daß  sie  alle  auf  einer  inneren  Basis  stehen  -  Konstruktion. 
Der  innere  Inhalt  des  Werkes  kann  entweder  einem  oder  dem  anderen 
von  zwei  Vorgängen  gehören,  die  heute  (ob  nur  heute?  oder  heute 
nur  besonders  sichtbar?)  alle  Nebenbewegungen  in  sich  auflösen. 
Diese  zwei  Vorgänge  sind : 

1.  Das  Zersetzen  des  seelenlos-materiellen  Lebens  des  19.  Jahr- 
hunderts, das  heißt  das  Fallen  der  für  einzig  feste  gehaltenen  Stützen 
des  Materiellen,  das  Zerfallen  und  Sichauflösen  der  einzelnen  Teile. 

2.  Das  Aufbauen  des  seelisch-geistigen  Lebens  des  20.  Jahrhunderts, 
welches  wir  miterleben  und  welches  sich  schon  jetzt  in  starken,  aus- 
drucksvollen und  bestimmten  Formen  manifestiert  und  verkörpert. 
Diese  zwei  Vorgänge  sind  die  zwei  Seiten  der  «heutigen  Bewegung». 
Die  schon  erzielten  Erscheinungen  zu  qualifizieren  oder  auch  nur 
das  Endziel  dieser  Bewegung  festzustellen,  wäre  eine  Anmaßung,  die 
durch  verlorene  Freiheit  sofort  grausam  bestraft  würde. 

Wie  schon  oft  gesagt,  nicht  zur  Beschränkung  sollen  wir  streben, 
sondern  zur  Befreiung.  Nichts  soll  man  verwerfen  ohne  angestrengte 
Versuche,  Lebendes  zu  entdecken. 
Es  ist  besser,  den  Tod  für  das  Leben  zu  halten,  als  das  Leben  für  den 


44 


Tod.  Wenn  auch  nur  ein  einziges  Mal.  Und  nur  auf  einer  freigewor- 
denen Stelle  kann  wieder  etwas  wachsen.  Der  Freie  sucht  sich  durch 
alles  zu  bereichern  und  von  jedem  Wesen  das  Leben  auf  sich  wirken 
zu  lassen  -  wenn  es  auch  nur  ein  abgebranntes  Zündholz  ist. 
Nur  durch  Freiheit  kann  das  Kommende  empfangen  werden. 
Und  man  bleibt  nicht  abseits  stehen,  wie  der  dürre  Baum,  unter  dem 
Christus  das  schon  bereitliegende  Schwert  sah. 


45 


w 


Über  Bühnenkomposition 


«Über  Bühnenkomposition»  erschien  1912  in  der  Publikation  Der 
Blaue  Reiter.  Hier  sehen  wir  Kandinsky  in  seiner  ersten  Auseinander- 
setzung mit  dem,  was  er  später  «synthetische  Kunst»  nannte  und  wo- 
runter er  vor  allem  die  Synthese  der  Künste  auf  der  Bühne  verstand : 
Literatur,  Tanz,  Bühnenbild.  Vor  allem  das  Licht  und  die  bewegten 
Formen  auf  der  Bühne  beschäftigten  ihn  sehr.  Er  schrieb  2  Bühnen- 
stücke. Der  gelbe  Klang  war  im  Anschluß  an  nachstehenden  Aufsatz 
im  Blauen  Reiter  abgedruckt.  In  den  Zwanzigerjahren  schrieb  er 
Violett.  Leider  nur  ein  einziges  Mal  war  es  Kandinsky  vergönnt, 
ein  Bühnenstück  in  Szene  zu  setzen,  nämlich  Bilder  einer  Ausstellung 
von  Mussorgsky,  worüber  er  sich  1928  schriftlich  äußerte. 


Jede  Kunst  hat  eine  eigene  Sprache,  das  heißt  die  nur  ihr  eigenen 
Mittel.  So  ist  jede  Kunst  etwas  in  sich  Geschlossenes.  Jede  Kunst  ist 
ein  eigenes  Leben.  Sie  ist  ein  Reich  für  sich. 

Deswegen  sind  die  Mittel  verschiedener  Künste  äußerlich  voll- 
kommen verschieden.  Klang,  Farbe,  Wort !  . . . 

Im  letzten  innerlichen  Grunde  sind  diese  Mittel  vollkommen  gleich :  das 
letzte  Ziel  löscht  die  äußeren  Verschiedenheiten  und  entblößt  die 
innere  Identität. 

Dieses  letzte  2Äz\  (Erkenntnis)  wird  in  der  menschlichen  Seele  er- 
reicht durch  feinere  Vibrationen  derselben.  Diese  feineren  Vibra- 
tionen, die  im  letzten  Ziele  identisch  sind,  haben  aber  an  und  für  sich 
verschiedene  innere  Bewegungen  und  unterscheiden  sich  dadurch 
voneinander. 

Der  undefinierbare  und  doch  bestimmte  Seelenvorgang  (Vibration) 
ist  das  Ziel  der  einzelnen  Kunstmittel. 
Ein  bestimmter  Komplex  der  Vibrationen  -  das  Ziel  eines  Werkes. 


47 


Die  durch  das  Summieren  bestimmter  Komplexe  vor  sich  gehende 
Verfeinerung  der  Seele  -  das  Ziel  der  Kunst. 
Die  Kunst  ist  deswegen  unentbehrlich  und  zweckmäßig. 
Das  vom  Künstler  richtig  gefundene  Mittel  ist  eine  materielle  Form 
seiner   Seelenvibration,  welcher  einen  Ausdruck  zu  finden   er  ge- 
zwungen ist. 

Wenn  dieses  Mittel  richtig  ist,  so  verursacht  es  eine  beinahe  identische 
Vibration  in  der  Seele  des  Empfängers. 

Das  ist  unvermeidlich.  Nur  ist  diese  zweite  Vibration  kompliziert.  Sie 
kann  erstens  stark  oder  schwach  sein,  was  von  dem  Grad  der  Ent- 
wicklung des  Empfängers  und  auch  von  zeitlichen  Einflüssen  (ab- 
sorbierte Seele)  abhängt.  Zweitens  wird  diese  Vibration  der  Seele 
des  Empfängers  entsprechend  auch  andere  Saiten  der  Seele  in  Schwin- 
gung bringen.  Das  ist  die  Anregung  der  «Phantasie»  des  Empfängers, 
welcher  am  Werke  «weiterschafft». * 

Die  öfter  vibrierenden  Saiten  der  Seele  werden  beinahe  bei  jeder  Be- 
rührung auch  anderer  Saiten  mitklingen.  Und  manchmal  so  stark, 
daß  sie  den  ursprünglichen  Klang  übertönen:  es  gibt  Menschen,  die 
durch  «lustige»  Musik  zum  Weinen  gebracht  werden  und  umgekehrt. 
Deswegen  werden  einzelne  Wirkungen  eines  Werkes  bei  verschie- 
denen Empfängern  mehr  oder  weniger  gefärbt. 

1  Heutzutage  rechnen  besonders  Theaterinszenierungen  auf  diese 
«Mitwirkung»,  welche  natürlich  stets  vom  Künstler  gebraucht 
wurde.  Daher  stammte  auch  das  Verlangen  nach  einem  gewissen 
freien  Raum,  welcher  das  Werk  vom  letzten  Grade  des  Ausdrucks 
trennen  mußte. 

Dieses  Nicht-bis-zuletzt-sagen  verlangten  zum  Beispiel  Lessing  und 
Delacroix.  Dieser  Raum  ist  das  freie  Feld  für  die  Arbeit  der  Phantasie. 


48 


Der  ursprüngliche  Klang  wird  aber  in  diesem  Falle  nicht  vernichtet, 
sondern  lebt  weiter  und  verrichtet,  wenn  auch  unmerklich,  seine 
Arbeit  an  der  Seele.1 

Es  gibt  also  keinen  Menschen,  welcher  die  Kunst  nicht  empfängt. 
Jedes  Werk  und  jedes  einzelne  Mittel  des  Werkes  verursacht  in 
jedem  Menschen  ohne  Ausnahme  eine  Vibration,  die  im  Grunde  der 
des  Künstlers  identisch  ist. 

Die  innere,  im  letzten  Grunde  entdeckbare  Identität  der  einzelnen 
Mittel  verschiedener  Künste  ist  der  Boden  gewesen,  auf  welchem 
versucht  wurde,  einen  bestimmten  Klang  einer  Kunst  durch  den 
identischen  Klang  einer  anderen  Kunst  zu  unterstützen,  zu  stärken 
und  dadurch  eine  besonders  gewaltige  Wirkung  zu  erzielen.  Das  ist 
ein  Wirkungsmittel. 

Die  Wiederholung  aber  des  einen  Mittels  einer  Kunst  (zum  Beispiel 
Musik)  durch  ein  identisches  Mittel  einer  anderen  Kunst  (zum  Bei- 
spiel Malerei)  ist  nur  ein  Fall,  eine  Möglichkeit. 

Wenn  diese  Möglichkeit  auch  als  ein  inneres  Mittel  verwendet  wird 
(zum  Beispiel  bei  Skrjabin)2,  so  finden  wir  auf  dem  Gebiete  des 
Gegensatzes  und  der  komplizierten  Komposition  erst  einen  Anti- 
poden dieser  Wiederholung  und  später  eine  Reihe  von  Möglichkeiten, 
die  zwischen  der  Mit-  und  Gegenwirkung  liegen.  Das  ist  ein  un- 
erschöpfliches Material. 

Das  19.  Jahrhundert  zeichnete  sich  als  eine  Zeit  aus,  welcher  innere 


1  So  wird  mit  der  Zeit  jedes  Werk  richtig  «verstanden». 

2  Siehe  den  Artikel  I.,  Sabanejews,  in  diesem  Buch. 


49 


Schöpfung  fern  lag.  Das  Konzentrieren  auf  materielle  Erscheinungen 
und  auf  die  materielle  Seite  der  Erscheinungen  mußte  die  schöpferische 
Kraft  auf  dem  Gebiete  des  Inneren  logisch  zum  Sinken  bringen,  was 
scheinbar  bis  zum  letzten  Grad  des  Versinkens  führte. 
Aus  dieser  Einseitigkeit  mußten  sich  natürlich  auch  andere  Einseitig- 
keiten entwickeln. 
So  auch  auf  der  Bühne. 

1.  kam  auch  hier  (wie  auf  anderen  Gebieten)  notgedrungen  die 
minuziöse  Ausarbeitung  der  einzelnen  schon  existierenden  (früher 
geschaffenen)  Teile,  die  der  Bequemlichkeit  halber  stark  und  definitiv 
voneinander  getrennt  wurden.  Hier  spiegelte  sich  die  Spezialisierung 
ab,  die  immer  sofort  entsteht,  wenn  keine  neuen  Formen  geschaffen 
werden  und 

2.  der  positive  Charakter  des  Zeitgeistes  konnte  nur  zu  einer  Form 
der  Kombinierung  führen,  die  ebenso  positiv  war.  Man  dachte  eben: 
zwei  ist  mehr  als  eins,  und  suchte  jede  Wirkung  durch  Wiederholung 
zu  verstärken.  In  der  inneren  Wirkung  kann  es  aber  umgekehrt  sein 
und  oft  ist  eins  mehr  als  zwei.  Mathematisch  ist  1+1  =2.  Seelisch 
kann  1 — 1  =  2  sein. 

ad.  1.  Durch  die  erste  Folge  des  Materialismus ;  das  heißt  durch  die 
Spezialisierung  und  die  damit  verbundene  weitere  äußerliche  Aus- 
arbeitung der  einzelnen  Teile,  entstanden  und  versteinerten  sich  drei 
Gruppen  von  Bühnenwerken,  die  voneinander  durch  hohe  Mauern 
abgeteilt  wurden :     a)    Drama, 

b)  Oper, 

c)  Ballett. 


50 


a)  Das  Drama  des  19.  Jahrhunderts  ist  im  allgemeinen  eine  mehr 
oder  weniger  raffinierte  und  in  die  Tiefen  gehende  Erzählung  eines 
Vorganges  von  mehr  oder  weniger  persönlichem  Charakter.  Es  ist 
gewöhnlich  eine  Beschreibung  des  äußeren  Lebens,  wo  das  seelische 
Leben  des  Menschen  auch  nur  soweit  mitspielt,  als  es  mit  dem 
äußeren  Leben  zu  tun  hat.1 

Das  kosmische  Element  fehlt  vollkom??ien. 

Der  äußere  Vorgang  und  der  äußere  Zusammenhang  der  Handlung  ist  die 

Form  des  heutigen  Dramas. 

b)  Die  Oper  ist  ein  Drama,  zu  welchem  Musik  als  Hauptelement  hin- 
zugefügt wird,  wobei  Raffiniertheit  und  Vertiefung  des  dramatischen 
Teiles  stark  leiden.  Die  beiden  Teile  sind  vollkommen  äußerlich  mit- 
einander verbunden.  Das  heißt  entweder  illustriert  (beziehungsweise 
verstärkt)  die  Musik  den  dramatischen  Vorgang  oder  der  dramatische 
Vorgang  wird  als  Erklärung  der  Musik  zu  Hilfe  gezogen. 

Dieser  wunde  Punkt  wurde  von  Wagner  bemerkt,  und  er  suchte  ihm 
durch  verschiedene  Mittel  abzuhelfen.  Der  Grundgedanke  war  dabei, 
die  einzelnen  Teile  organisch  miteinander  zu  verbinden  und  auf  diese 
Weise  ein  monumentales  Werk  zu  schaffen.2 

1  Ausnahmen  finden  wir  wenige.  Und  auch  diese  wenigen  (zum 
Beispiel  Maeterlink,  Ibsens  «Gespenster»,  Andrejews  «Das  Leben 
des  Menschen»  und  dergleichen)  bleiben  doch  im  Banne  des 
äußeren  Vorganges. 

2  Dieser  Gedanke  Wagners  hat  über  ein  halbes  Jahrhundert  ge- 
braucht, um  über  die  Alpen  zu  gelangen,  wo  er  eine  offiziell  aus- 
gedrückte Paragraphengestalt  erhält.  Das  musikalische  «Manifest» 
der  «Futuristi»  lautet:  «Proclamer  comme  une  necessite  absolue 
que  le  musicien  soit  l'auteur  du  poeme  dramatique  ou  tragique 
qu'il  doit  mettre  en  musique».  (Mai  1911,  Mailand.) 


51 


Durch  Wiederholung  einer  und  derselben  äußeren  Bewegung  in 
zwei  Substanzformen  suchte  Wagner  die  Verstärkung  der  Mittel 
zu  erreichen  und  die  Wirkung  zu  einer  monumentalen  Höhe  zu 
bringen.  Sein  Fehler  war  in  diesem  Falle  der  Gedanke,  daß  er  über 
ein  Universalmittel  verfügte.  Dieses  Mittel  ist  in  Wirklichkeit  nur 
eines  aus  der  Reihe  von  oft  gewaltigeren  Möglichkeiten  in  der  monu- 
mentalen Kunst. 

Abgesehen  aber  davon,  daß  eine  parallele  Wiederholung  nur  ein 
Mittel  ist,  und  davon,  daß  diese  Wiederholung  nur  äußerlich  ist,  hat 
Wagner  ihr  eine  neue  Gestaltung  gegeben,  die  zu  weiteren  führen 
mußte.  Vor  Wagner  hat  zum  Beispiel  die  Bewegung  einen  rein 
äußerlichen  und  oberflächlichen  Sinn  in  der  Oper  gehabt  (vielleicht 
nur  Entartung).  Es  war  ein  naives  Anhängsel  der  Oper:  das  An-die- 
Brust-drücken  der  Hände  -  Liebe,  das  Heben  der  Arme  -  Gebet, 
das  Ausbreiten  der  Arme  -  starke  Gemütsbewegung  und  dergleichen. 
Diese  kindlichen  Formen  (die  man  noch  heute  jeden  Abend  sehen 
kann)  standen  in  äußerlichem  Zusammenhang  mit  dem  Text  der 
Oper,  der  wieder  durch  die  Musik  illustriert  wurde.  Wagner  hat  hier 
eine  direkte  (künstlerische)  Verbindung  zwischen  der  Bewegung  und 
dem  musikalischen  Takt  geschaffen:  die  Bewegung  wurde  dem  Takt 
unterordnet. 

Diese  Verbindung  ist  aber  doch  nur  äußerlicher  Natur.  Der  innere 
Klang  der  Bewegung  bleibt  aus  dem  Spiel. 

Auf  dieselbe  künstlerische,  aber  auch  äußerliche  Weise  wurde  bei 
Wagner  andererseits  die  Musik  dem  Text  unterordnet,  das  heißt  der 
Bewegung  in  breitem  Sinne.  Es  wurde  musikalisch  das  Zischen  des 


52 


glühenden  Eisens  im  Wasser,  das  Schlagen  des  Hammers  beim 
Schmieden  und  dergleichen  dargestellt. 

Diese  wechselnde  Unterordnung  ist  aber  auch  wieder  eine  Bereicherung 
der  Mittel  gewesen,  die  zu  weiteren  Kombinationen  führen  mußte. 
Also  einerseits  bereicherte  Wagner  die  Wirkung  eines  Mittels  und 
verminderte  andererseits  den  inneren  Sinn  -  die  rein  künstlerische 
innere  Bedeutung  des  Hilfsmittels. 

Diese  Formen  sind  nur  mechanische  Reproduktionen  (nicht  innere 
Mitwirkungen)  der  zweckmäßigen  Vorgänge  der  Handlung.  Ähn- 
licher Natur  ist  auch  die  andere  Verbindung  der  Musik  mit  Bewegung 
(im  breiten  Sinne  des  Wortes),  das  heißt  die  musikalische  «Charak- 
teristik» der  einzelnen  Rollen.  Dieses  hartnäckige  Auftauchen  eines 
musikalischen  Satzes  bei  dem  Erscheinen  eines  Helden  verliert 
schließlich  an  Kraft  und  wirkt  auf  das  Ohr  wie  eine  altbekannte 
Flaschenetikette  auf  das  Auge.  Das  Gefühl  sträubt  sich  schließlich 
gegen  derartige  konsequent  programmatische  Anwendungen  einer 
und  derselben  Form.1 

Endlich :  Das  Wort  braucht  Wagner  als  Mittel  der  Erzählung  oder  zum 
Ausdruck  seiner  Gedanken.  Es  wurde  hier  aber  kein  geeignetes  Milieu 
für  solche  Zwecke  geschaffen,  da  in  der  Regel  die  Worte  vom  Or- 
chester übertönt  werden.  Es  ist  kein  genügendes  Mittel,  in  vielen 
Rezitativen  das  Wort  klingen  zu  lassen.  Aber  der  Versuch,  das  unauf  hör- 

1  Dieses  Programmatische  durchdringt  das  Schaffen  Wagners  und 
erklärt  sich  scheinbar  nicht  nur  aus  dem  Charakter  des  Künstlers, 
sondern  auch  aus  dem  Bestreben,  eine  präzise  Form  zu  dem  neuen 
Schaffen  zu  finden,  wobei  der  Geist  des  19.  Jahrhunderts  seinen 
Stempel  des  «Positiven»  darauf  abdrückte. 


54 


liehe  Singen  zu  unterbrechen,  versetzte  dem  «Einheitlichen»  schon  einen 
gewaltigen  Stoß.  Doch  der  äußere  Vorgang  blieb  auch  davon  unberührt. 
Abgesehen  davon,  daß  Wagner  trotz  seinen  Bestrebungen,  einen 
Text  (Bewegung)  zu  schaffen,  hier  vollkommen  in  der  alten  Tradition 
des  Äußerlichen  blieb,  ließ  er  das  dritte  Element  ohne  Beachtung, 
welches  heute  in  einer  noch  primitiven  Form  vereinzelt  angewendet 
wird1  -  die  Farbe  und  die  damit  verbundene  malerische  Form 
(Dekoration). 

Der  äußere  Vorgangs  der  äußere  Zusammenhang  der  einzelnen  Teile  desselben 
und  der  beiden  Mittel  (Drama  und  Musik)  ist  die  Form  der  heutigen  Oper. 
c)  das  Ballett  ist  ein  Drama  mit  allen  schon  beschriebenen  Kenn- 
zeichen und  demselben  Inhalt.  Nur  verliert  sich  hier  der  Ernst  des 
Dramas  noch  mehr,  als  in  der  Oper.  In  der  Oper  kommen  außer 
Liebe  auch  andere  Themen  vor:  religiöse,  politische,  soziale  Ver- 
hältnisse sind  der  Boden,  auf  welchem  Begeisterung,  Verzweiflung, 
Ehrlichkeit,  Haß  und  gleichartige  andere  Gefühle  wachsen.  Das 
Ballett  begnügt  sich  mit  Liebe  in  einer  kindlichen  Märchenform. 
Außer  Musik  werden  hier  die  einzelnen  und  Gruppenbewegungen  zu 
Hilfe  genommen.  Alles  bleibt  in  einer  naiven  Form  des  äußerlichen 
Zusammenhanges.  Es  werden  sogar  in  der  Praxis  nach  Belieben 
einzelne  Tänze  eingeschoben  oder  ausgelassen.  Das  «Ganze»  ist  so 
problematisch, daß  solche  Operationen  vollkommen  unbemerkt  bleiben. 
Der  äußere  Vorgangs  der  äußere  Zusammenhang  der  einzelnen  Teile  und 
der  drei  Mittel  (Drama,  Musik  und  Tan%)  ist  die  Form  des  heutigen  Balletts. 

1  Siehe  den  Artikel  Sabanejews. 


55 


ad.  2.  Durch  die  ^weite  Folge  des  Materialismus,  das  heißt  durch  die 
positive  Addierung  (1  +  1  =  2,  2  +  1  =  3),  wurde  nur  eine  Kom- 
binierungs-  (beziehungsweise  Verstärkungs-)  form  gebraucht,  die 
ein  Parallellaufen  der  Mittel  verlangte.  Zum  Beispiel  starke  Gemüts- 
bewegung bekommt  sofort  ein  ff.  als  unterstrichenes  Element  in  der 
Musik.  Dieses  mathematische  Prinzip  baut  auch  die  Wirkungsformen  auf 
einer  rein  äußerlichen  Basis  auf. 

All  die  genannten  Formen,  die  ich  Substanzformen  nenne  (Drama  - 
Wort,  Oper  -  Klang,  Ballett  -  Bewegung),  und  ebenso  die  Kom- 
binationen der  einzelnen  Mittel,  die  ich  Wirkungsmittel  nenne, 
werden  zu  einer  äußerlichen  Einheit  konstruiert.  Da  alle  diese  Formen 
aus  dem  Prinzip  der  äußeren  Notwendigkeit  entstanden. 
Daraus  fließt  als  logisches  Resultat  die  Begrenzung,  die  Einseitigkeit 
(=  die  Verarmung)  der  Formen  und  Mittel.  Sie  werden  allmählich 
orthodox  und  jede  minuziöse  Änderung  erscheint  revolutionär. 

Stellen  wir  uns  auf  den  Boden  des  Innerlichen.  Die  ganze  Sachlage 
verändert  sich  wesentlich. 

1.  Es  verschwindet  plötzlich  der  äußere  Schein  jedes  Elementes. 
Und  sein  innerer  Wert  bekommt  vollen  Klang. 

2.  Es  wird  klar,  daß  bei  Anwendung  des  inneren  Klanges  der  äußere 
Vorgang  nicht  nur  nebensächlich  sein  kann,  sondern  als  Verdunk- 
lung schädlich. 

3.  Es  erscheint  der  Wert  des  äußeren  Zusammenhangs  im  richtigen 
Licht,  das  heißt  als  unnötig  beschränkend  und  die  innere  Wirkung 
abschwächend. 


56 


4.  Es  kommt  von  selbst  das  Gefühl  der  Notwendigkeit  der  inneren 
Einheitlichkeit,  die  durch  äußere  Uneinheitlichkeit  unterstützt  und 
sogar  gebildet  wird. 

5.  Es  entblößt  sich  die  Möglichkeit,  jedem  der  Elemente  das  eigene 
äußere  Leben  zu  behalten,  welches  äußerlich  im  Widerspruch  zum 
äußeren  Leben  eines  anderen  Elementes  steht. 

Wenn  wir  weiter  aus  diesen  abstrakten  Entdeckungen  praktische 

schaffen,  so  sehen  wir,  daß  es  möglich  ist, 

ad.  1.  nur  den  inneren  Klang  eines  Elementes  als  Mittel  zu  nehmen, 

ad.  2.  den  äußeren  Vorgang  (=  Handlung)  zu  streichen, 

ad.  3.  wodurch  der  äußere  Zusammenhang  von  selbst  fällt  ebenso  wie 

ad.  4.  die  äußere  Einheitlichkeit  und 

ad.  5.  daß  die  innere  Einheitlichkeit  eine  unzählige  Reihe  von  Mitteln 

in  die  Hand  gibt,  die  früher  nicht  da  sein  konnten. 

Hier  wird  also  %ur  einzigen  Quelle  die  innere  Notwendigkeit. 

Die  kleine  Bühnenkomposition  Der  gelbe  Klang  ist  ein  Versuch,  aus 
dieser  Quelle  zu  schöpfen.  Es  sind  hier  drei  Elemente,  die  zu  äußeren 
Mitteln  im  inneren  Werte  dienen: 

1.  musikalischer  Ton  und  seine  Bewegung, 

2.  körperlich-seelischer  Klang  und  seine  Bewegung  durch  Menschen 
und  Gegenstände  ausgedrückt, 

3.  farbiger  Ton  und  seine  Bewegung  (eine  spezielle  Bühnenmöglich- 
keit). 

So  besteht  hier  schließlich  das  Drama  aus  dem  Komplex  der  inneren 
Erlebnisse  (Seelenvibrationen)  des  Zuschauers. 


58 


ad.l.  Von  der  Oper  wurde  das  Hauptelement  -  die  Musik  als 
Quelle  der  inneren  Klänge  -  genommen,  die  in  keiner  Weise  äußer- 
lich dem  Vorgang  untergeordnet  sein  muß. 

ad.  2.  Aus  dem  Ballett  wurde  der  Tanz  genommen,  welcher  als  ab- 
strakt wirkende  Bewegung  mit  innerem  Klang  gebracht  wird, 
ad.  3.  Der  farbige  Ton  bekommt  eine  selbständige  Bedeutung  und 
wird  als  gleichberechtigtes  Mittel  behandelt. 

Alle  drei  Elemente  spielen  eine  gleich  wichtige  Rolle,  bleiben  äußer- 
lich selbständig  und  werden  gleich  behandelt,  das  heißt  dem  inneren 
Ziele  unterordnet. 

Es  kann  also  zum  Beispiel  die  Musik  vollkommen  zurückgeschoben 
oder  in  den  Hintergrund  geschoben  werden,  wenn  die  Wirkung  zum 
Beispiel  der  Bewegung  ausdrucksvoll  genug  ist  und  durch  starke 
musikalische  Mitwirkung  geschwächt  werden  könnte.  Dem  Wachsen 
der  Bewegung  in  der  Musik  kann  ein  Abnehmen  der  Bewegung  im 
Tanz  entsprechen,  wodurch  beide  Bewegungen  (positive  und  nega- 
tive) größeren  inneren  Wert  bekommen.  Eine  Reihe  von  Kombi- 
nationen, die  zwischen  den  zwei  Polen  liegen:  Mitwirkung  und 
Gegenwirkung.  Graphisch  gedacht  können  die  drei  Elemente  voll- 
kommen eigene,  voneinander  äußerlich  unabhängige  Wege  laufen. 
Das  Wort  als  solches  oder  in  Sätze  gebunden  kann  angewendet  wer- 
den, um  eine  gewisse  «Stimmung»  zu  bilden,  die  den  Seelenboden 
befreit  und  empfänglich  macht.  Der  Klang  der  menschlichen  Stimme 
kann  auch  rein  angewendet  werden,  das  heißt  ohne  Verdunkelung 
desselben  durch  das  Wort,  durch  den  Sinn  des  Wortes. 


59 


&> 


Die  Grundelemente  der  Form 

«Die  Grundelemente  der  Form»  erschien  im  Buch  Staatliches  Bau- 
haus in  Weimar  1919-23,  im  Bauhaus- Verlag,  Weimar-München, 
herausgegeben  vom  Staatlichen  Bauhaus  in  Weimar  und  Karl 
Nierendorf  in  Köln.  Kandinsky  war  1922  von  Walter  Gropius  als 
Meister  an  das  Staatliche  Bauhaus  in  Weimar  berufen  worden  und 
hatte  sich  in  der  Folge  in  die  dort  zu  leistende  pädagogische  Arbeit 
eingefügt.  Die  Abhandlung  zeigt  Kandinskys  Auseinandersetzung 
mit  den  Zielen,  die  sich  das  Bauhaus  zu  eigen  gemacht  hatte. 

Die  Arbeit  im  Bauhaus  unterliegt  im  allgemeinen  der  endlich  begin- 
nenden Einheit  verschiedener  Gebiete,  die  noch  kürzlich  als  streng 
voneinander  getrennte  aufgefaßt  wurden. 

Diese  neuerdings  zueinander  strebenden  Gebiete  sind:  Kunst  über- 
haupt, in  erster  Linie  die  sogenannte  bildende  Kunst  (Architektur, 
Malerei,  Plastik),  Wissenschaß  (Mathematik,  Physik,  Chemie,  Physio- 
logie undsoweiter)  und  Industrie,  als  technische  Möglichkeiten  und 
wirtschaftliche  Faktoren. 

Die  Arbeit  im  Bauhaus  ist  eine  synthetische.  Die  synthetische  Methode 
schließt  in  sich  selbstverständlich  die  analytische  ein.  Der  Zusammen- 
hang der  beiden  Methoden  ist  unumgänglich. 

Auf  dieser  Basis  muß  auch  die  Lehre  über  die  Grundelemente  der 
Form  gebaut  werden. 
Die  Formfrage  im  allgemeinen  muß  in  zwei  Teile  geteilt  werden: 

1 .  Die  Form  im  engeren  Sinne  -  Fläche  und  Raum. 

2.  Die  Form  im  breiteren  Sinne  -  Farbe  und  die  Beziehung  zur 
Form  im  engeren  Sinne. 

In  beiden  Fällen  müssen  die  Arbeiten  von  einfachsten  Gestalten  zu 
komplizierteren  planmäßig  übergehen. 


61 


So  wird  im  ersten  Teil  der  Formfrage  die  Fläche  auf  drei  Grund- 
elemente zurückgeführt  -  Dreieck,  Quadrat  und  Kreis  -  und  der 
Raum  zu  den  daraus  entstehenden  Raumgrundelementen  -  Pyramide, 
Kubus  und  Kugel. 

Da  keine  Fläche  und  kein  Raum  farblos  existieren  können,  das  heißt 
da  die  Form  im  engeren  Sinne  in  Wirklichkeit  sofort  als  Form  im 
breiteren  Sinne  untersucht  werden  muß,  so  kann  die  Teilung  der 
beiden  Formfragen  lediglich  schematisch  betrieben  werden  und 
andererseits  muß  von  vornherein  die  organische  Beziehung  der 
beiden  Teile  festgestellt  werden  —  Beziehung  Form  zur  Farbe  und 
umgekehrt. 

Die  erst  entstehende  Kunstwissenschaft  kann  in  dieser  Fragestellung 
fast   keine   Aufklärungen  in   der   kunstgeschichtlichen   Perspektive 
geben  und  deshalb  muß  vorläufig  der  bezeichnete  Weg  erst  geebnet 
werden. 
So  steht  jedes  einzelne  Studium  vor  zwei  gleich  wichtigen  Aufgaben : 

1.  Die  Analyse  der  gegebenen  Erscheinung,  die  von  den  anderen 
Erscheinungen  möglichst  isoliert  betrachtet  sein  muß,  und 

2.  der  Zusammenhang  der  erst  isoliert  untersuchten  Erscheinungen 
untereinander  -  synthetische  Methode. 

Das  erste  möglichst  eng  und  beschränkt,  das  zweite  möglichst  breit 
und  schrankenlos. 


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bu 


Farbkurs  und  Seminar 

«Farbkurs  und  Seminar»  erschien  im  Buch  Staatliches  Bauhaus  in 
Weimar  1919-23,  im  Bauhaus -Verlag,  Weimar-München,  heraus- 
gegeben vom  Staatlichen  Bauhaus  in  Weimar  und  Karl  Nieren- 
dorf in  Köln.  Die  hier  von  Kandinsky  dargestellten  Gedanken 
sind  entstanden  im  Zusammenhang  mit  den  von  ihm  am  Bauhaus 
seit  1922  begonnenen  Vorlesungen  über  die  Grundelemente  der 
Form,  dem  Kurs  über  die  Farblehre  und  dem  daran  angegliederten 
Seminar. 

Die  Farbe  muß  wie  jede  andere  Erscheinung  von  verschiedenen 
Standpunkten  in  verschiedenen  Richtungen  und  mit  den  entspre- 
chenden Methoden  untersucht  werden.  Rein  wissenschaftlich  ver- 
teilen sich  diese  Richtungen  in  drei  Gebiete:  das  der  Physik  und 
Chemie,  der  Physiologie  und  der  Psychologie.1  Wenn  diese  Gebiete 
speziell  in  bezug  auf  den  Menschen  und  vom  Standpunkte  des  Men- 
schen angewendet  werden,  so  behandelt  das  erste  Gebiet  das  Wesen 
der  Farbe,  das  zweite  -  die  Mittel  der  äußeren  Aufnahme,  das  dritte 
-  das  Resultat  der  inneren  Wirkung. 

Es  ist  also  klar,  daß  für  den  Künstler  diese  drei  Gebiete  gleich  wichtig 
und  unumgänglich  sind.  Er  muß  hier  synthetisch  vorgehen  und  die 
gegebenen  Methoden  seinen  Zielen  entsprechend  brauchen. 
Aber  außerdem  kann  der  Künstler  die  Farbe  theoretisch  in  zwei 
Richtungen  untersuchen,  wobei  sein  Standpunkt  und  seine  Eigen- 
schaften die  erwähnten  drei  Gebiete  ergänzen  und  bereichern  müssen. 


1  Eine  spezielle  Frage  von  besonderer  Wichtigkeit  bilden  die  sozio- 
logischen Zusammenhänge,  die  aber  außer  dem  Kreis  der  Farb- 
frage als  solcher  stehen  und  deshalb  ein  spezielles  Studium  ver- 
langen. 


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Diese  zwei  Richtungen  sind: 

1.  Das  Untersuchen  der  Farbe  -  Wesen  der  Farbe  ^  ihre  Eigenschaften, 
Kräfte  und  Wirkungen  -  ohne  Bezug  auf  praktische  Anwendung, 
das  heißt  «zwecklose»  Wissenschaft,  und 

2.  das  Untersuchen  der  Farbe  in  der  von  der  praktischen  Notwendigkeit 
diktierten  Richtung  -  engerer  Zweck  -  und  planmäßiges  Studium 
der  Farbe,  das  aber  große  eigene  Aufgaben  stellt. 

Die  beiden  Richtungen  sind  für  den  Künstler  fest  miteinander  ver- 
bunden und  die  zweite  ohne  die  erste  nicht  denkbar.  Die  Methode 
dieser  Arbeiten  muß  analytisch  und  synthetisch  sein.  Die  beiden 
Methoden  sind  miteinander  fest  verbunden  und  die  zweite  ohne  die 
erste  nicht  denkbar.  Diesen  Methoden  werden  drei  Hauptfragen  ge- 
stellt, die  mit  drei  weiteren  Hauptfragen  organisch  verbunden  sind 
und  die  zusammen  die  sämtlichen  einzelnen  Fragen  der  beiden  Rich- 
tungen umfassen: 

1.  Die  Untersuchung  der  Farbe  als  solcher  -  ihres  Wesens  und  ihrer 
Eigenschaften : 

a)  isolierte  Farbe 

\  absoluter  und  relativer  Wert. 

b)  zusammengestellte  Farbe  J 

Hier  wird  mit  möglichst  abstrakter  Farbe  angefangen  (die  Farbe  in 
der  Vorstellung)  und  über  die  in  der  Natur  vorkommenden  Farben  - 
mit  Spektralfarben  anfangend  -  zu  Farbe  in  Pigmentform  über- 
gegangen. 

2.  Die  zweckmäßige  Zusammenstellung  der  Farben  im  einheitlichen 
Aufbau  -  Konstruktion  der  Farbe  -  und 

3.  das  Unterordnen  der  Farbe  -  als  eines  einzelnen  Elementes  -  und 


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der  zweckmäßigen  Zusammenstellungen  -  als  Konstruktion  -  dem 
künstlerischen  Inhalt  des  Werkes  '-  Komposition  der  Farbe.  Diesen 
drei  Fragen  entsprechen  also  drei  Fragen,  die  aus  der  Formfrage 
im  engeren  Sinne  entstehen  -  in  Realität  kann  die  Farbe  ohne  Form 
nicht  existieren: 

1.  Organische  Zusammenstellung  der  isolierten  Farbe  mit  der  ihr 
entsprechenden  primären  Form  -  malerische  Elemente. 

2.  Zweckmäßiger  Aufbau  der  Farbe  und  Form  -  Konstruktion  der 
vollen  Form,  und 

3.  untergeordnetes  Zusammenstellen  der  beiden  Elemente  im  Sinne 
der  Komposition  des  Werkes. 

Da  im  Bauhaus  die  Farbe  mit  den  Zielen  verschiedener  Werkstätten 
verbunden  ist,  so  müssen  aus  der  Lösung  der  Hauptfragen  Lö- 
sungen einzelner  spezieller  Fragen  herausgeleitet  werden.  Hier  sind 
folgende  Bedingungen  zu  berücksichtigen: 

1.  Die  Forderungen  der  Flächen-  und  der  Raumformen. 

2.  Eigenschaften  des   gegebenen  Materials. 

3.  Praktische  Bestimmung  des  gegebenen  Gegenstandes  und  der 
konkreten  Aufgabe. 

Hier  müssen  gesetzmäßige  Zusammenhänge  gefunden  werden.  Die 
einzelnen  Verwendungen  der  Farbe  verlangen  ein  spezielles  Studium : 
des  organischen  Bestandes  der  Farbe,  ihrer  Lebenskraft  und  ihrer 
Lebensdauer,  der  Möglichkeiten  des  Bindens  durch  Bindemittel  - 
dem  konkreten  Fall  entsprechend  -,  der  damit  natürlich  verbun- 
denen Technik,  der  Art  des  Auftrages  der  Farbe  -  dem  gegebenen 
Zweck  und  dem  Material  entsprechend  -,  der  Zusammenstellung 


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des  Farbenpigmentes  mit  anderen  farbigen  Materialien  wie  Stuck, 
Holz,  Glas,  Metall  undso weiter. 

Diese  Arbeiten  müssen  mit  möglichst  exakten  Mitteln,  speziell  Aus- 
messungen geführt  werden.  Sie  sind  mit  exakten  Versuchen  ver- 
bunden -  experimentales  Vorgehen  -,  die  von  möglichst  einfachen 
Formen  zu  immer  komplizierteren  planmäßig  übergehen.  Auch  diese 
Versuche  müssen  die  analytische  und  die  synthetische  Methode 
verwenden:  zweckmäßiges  Zerlegen  der  gegebenen  Formen  und 
plan-  und  zweckmäßiger  Aufbau. 
Diese  ganze  kunstwissenschaftliche  Arbeit  geschieht  durch: 

1.  Die  leitenden  Vorträge  des  Meisters. 

2.  Die  Vorträge  der  Schüler,  als  Resultat  ihrer  selbständigen  Lösung 
einer  speziellen  Aufgabe. 

3.  Die  gemeinschaftliche  Arbeit  des  Meisters  und  der  Schüler  am 
planmäßig  verlegten  Material  -  gemeinschaftliche  Beobachtungen, 
Schlüsse,  Aufstellen  der  einzelnen  Aufgaben,  Prüfung  der  Lösungen 
und  Entwicklung  des  weiteren  Arbeitsvorganges  (Seminar). 

Ein  besonderer  Wert  wird  auf  die  architektonischen  Forderungen 
gelegt:  Das  Innere,  das  Äußere  der  Architektur,  die  also  in  dieser 
Richtung  als  synthetische  Basis  aufgefaßt  werden  muß. 


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Über  die  abstrakte  Bühnensynthese 


«Über  die  abstrakte  Bühnensynthese»  erschien  im  Buch  Staatliches 
Bauhaus  in  Weimar  1919-23,  im  Bauhaus- Verlag,  Weimar-München, 
herausgegeben  vom  Staatlichen  Bauhaus  in  Weimar  und  Karl 
Nierendorf  in  Köln.  Kandinsky  formuliert  hier  in  abschließender 
Form  seine  Konzeption  für  eine  Bühnensynthese,  die  er  11  Jahre 
vorher  im  Blauen  Reiter  schon  vorgezeichnet  hatte. 


Im  Theater  ist  ein  sonderbarer  Magnet  mit  einer  sonderbaren  ver- 
borgenen Kraft  eingeschlossen.  Nicht  selten  gewann  dieser  Magnet 
größere  Spannungen  der  Anziehungskraft,  die  scheinbar  zu  größeren 
spannenden  Mitwirkungen  bringen  konnten. 

Aber  dem  Aufschwung  folgte  der  Niedergang  und  es  bildete  sich 
eine  feste,  kalte  Kruste  über  das  innere  Wesen  des  Theaters.  Gerade 
heute  ist  diese  Kruste  so  stark,  dick  und  kalt  geworden,  daß  die  pul- 
sierende Kraft  scheinbar  für  alle  Zeiten  erstarrte. 

Es  dürfte  heute  eher  als  je  vom  Niedergang  des  Theaters  gesprochen 
werden.  Nicht  umsonst  wird  ihm  der  gleichgültige  Rücken  gekehrt 
und  das  erwartende  Gesicht  wird  nicht  umsonst  dem  Variete,  dem 
Zirkus,  dem  Kabarett,  dem  Kino  zugewendet.  Die  alten  Theater- 
formen -  Drama,  Oper,  Ballett  -  sind  zu  Museumsformen  ver- 
härtet und  nur  im  Sinne  des  Museums  können  sie  wirken.  Das  übrige 
ist  ihnen  verloren  gegangen. 

Und  trotzdem  ist  der  heutige  Tag  die  Schwelle  des  neuen  Auf- 
schwunges, der  in  der  keimenden  und  kommenden  Größe  alle  frühe- 
ren Höhen  weit  überragen  wird. 
Der  verborgene   Magnet  wird   lebendig  und   sein   Pulsieren   wird 


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immer  mehr  hörbar.  Von  außen  kommen  neu  gespitzte  Kräfte  zu 
Hilfe,  die  berufen  sind,  die  harte  Kruste  zu  sprengen. 
Das  Gebäude  (Architektur),  das  nicht  anders  wie  farbig  sein  kann 
(Malerei)  und  jeden  Augenblick  geteilte  Räumlichkeiten  (Plastik) 
zusammenzuschmelzen  vermag,  saugt  durch  die  geöffneten  Türen 
Menschenströme  in  sich  und  ordnet  sie  in  schematische  strenge 
Reihen. 

Alle  Augen  in  einer  Richtung,  alle  Ohren  zu  einer  Quelle.  Höchste 
Empfangsspannung,  die  hier  entladen  werden  sollte.  Das  ist  die  äußere 
Möglichkeit  des  Theaters,  die  auf  die  neue  Gestaltung  wartet. 
In  dieser  abgesonderten  Welt  der  Spannung  ist  eine  andere  abgeson- 
derte Welt,  zu  der  die  Augen  und  Ohren  gerichtet  sind  -  die  Bühne. 
Hier  ist  das  versprechende  Zentrum  des  Theaters,  das  durch  höchste 
Spannung  eigenen  Lebens  die  höchste  Spannung  der  harrenden 
Reihen  entladen  sollte. 

Die  aufsaugende  Fähigkeit  dieses  Zentrums  ist  grenzenlos  -  sie 
vermittelt  durch  die  höchsten  Spannungen  die  sämtlichen  Kräfte  der 
sämtlichen  Künste  der  harrenden  Reihen.  Das  ist  die  innere  Möglich- 
keit des  Theaters,  die  auf  die  neue  Gestaltung  wartet. 
Die  sämtlichen  einzelnen  heutigen  Künste  vertiefen  sich  seit  Jahr- 
zehnten in  eigene  Kräfte.  Sie  zerlegen  rücksichtslos  die  eigenen 
Mittel  bis  an  die  letzte  Grenze  und  prüfen  diese  Mittel  unbewußt 
oder  bewußt  auf  der  inneren  Waage. 

Das  ist  die  Periode  der  großen  Analyse,  die  von  großer  Synthese 
laut  redet.  Das  Zerlegen  soll  dem  Zusammenlegen  dienen,  der 
Abbau  -  dem  Aufbau. 


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So  sieht  heute  die  «große  Welt»  aus  und  die  in  ihr  lebenden  kleinen 
Welten  spiegeln  genau  ihre  Schicksale  ab.  Dieses  Schicksal  soll  das 
Theater  teilen. 

Jede  Kunst  hat  eine  eigene  Sprache  und  die  ihr  allein  geeigneten 
Mittel  -  der  abstrakte  innere  Klang  ihrer  Elemente.  In  diesem 
abstrakten  inneren  Klang  ist  keine  dieser  Sprachen  durch  eine 
andere  zu  ersetzen.  So  ist  jede  abstrakte  Kunst  von  allen  anderen 
grundsätzlich  verschieden.  Darin  liegt  die  Stärke  des  Theaters. 
Der  im  Theater  verborgene  Magnet  hat  die  Kraft,  alle  diese  Sprachen 
an  sich  zu  ziehen,  alle  Mittel  der  Künste,  die  gemeinsam  die  größte 
Möglichkeit  der  monumentalen  abstrakten  Kunst  bieten. 
Bühne : 

1.  Raum  und  Räumlichkeit  -  Mittel  der  Architektur  -  der  Boden, 
auf  dem  jede  Kunst  zu  ihrem  Wort  kommen  kann,  damit  gemein- 
same Sätze  entstehen, 

2.  die  vom  Objekt  unabtrennbare  Farbe  -  Mittel  der  Malerei  -  in 
ihrer  räumlichen  und  zeitlichen  Ausdehnung,  ganz  besonders  in  der 
Form  des  farbigen  Lichtes, 

3.  die  einzelnen  räumlichen  Ausdehnungen  -  Mittel  der  ^Plastik  - 
mit  den  positiven  und  negativen  Luftgestaltungen, 

4.  der  organisierte  Klang  -  Mittel  der  Musik  -  mit  den  zeitlichen 
und  räumlichen  Ausdehnungen, 

5.  die  organisierte  Bewegung  -  Mittel  des  Tanges  -  zeitliche,  räum- 
liche, abstrakte  Bewegungen  nicht  des  Menschen  allein,  sondern  des 
Raumes,  der  abstrakten  Formen,  die  eigenen  Gesetzen  unterliegen; 

6.  endlich  die  letzte  uns  bekannte  Kunst,  die  ihre  abstrakten  Mittel 


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noch  nicht  entblößt  hat  -  die  Dichtung  -  stellt  das  menschliche  Wort 
in  der  zeitlichen  und  räumlichen  Ausdehnung  zur  Verfügung. 
Wie  die  Plastik  in  der  Architektur  teilweise  aufgeht,  so  geht  die 
Dichtung  in  der  Musik  teilweise  auf.  Also  streng  genommen  ist  die 
reine  abstrakte  Form  des  Theaters  die  Summe  der  abstrakten  Klänge: 

1 .  der  Malerei  -  Farbe, 

2.  der  Musik  -  Klang, 

3.  des  Tanzes  -  Bewegung, 

im  gemeinsamen  Klange  der  architektonischen  Gestaltung.  Hier  fängt 
die  abstrakte  Bühne  an,  die  zu  reinen  Formen  der  abstrakten  Bühnen- 
komposition werden  kann  und  bald  wird,  und  für  die  die  analytische 
Periode  der  gesamten  Künste  eine  unumgängliche  Vorstufe  ist. 
Die  Künste,  die  ein  eigenes  Leben  weiterführen  werden,  wofür 
ebenso  wichtig  und  unumgänglich  die  analytische  Periode  ist,  werden 
der  Bühne  rein  synthetisch  dienen  können.  In  diesem  Falle  verzichten 
sie  auf  eigene  Ziele,  um  dem  Gesetz  der  Bühnenkomposition  zu 
unterliegen,  die  den  anderen  Künsten  gleich  zur  neuen  Praxis  nur 
mit  Hilfe  der  Kunsttheorie  kommen  kann.  Die  Methoden  der  Kunst- 
wissenschaft, der  einzelnen  Künste  und  der  synthetischen  Theaterkunst 
bleiben  dieselben,  das  heißt  sie  muß  drei  Hauptfragen  umfassen: 
Speziell  auf  der  Bühne : 

1.  Elemente  der  Bühne  und  ihre  inneren  Kräfte  -  Grundelemente, 
Hilfselemente  undsoweiter,  das  heißt  genaue  systematische  Prüfung 
der  abstrakten  Werte. 

2.  Das  Gesetz  des  Aufbaues  -  Konstruktion  der  Bühnenelemente,  die 
ebenso  rein  wissenschaftliche  experimentale  Arbeiten  voraussetzen. 


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3.  Das  Gesetz  der  Unterordnungen  der  Elemente  und  der  Kon- 
struktion dem  inneren  Ziele  des  Werkes  -  Komposition.  Es  sollen 
Theaterlaboratorien  veranstaltet  werden,  wo  einzelne  Elemente  im 
Sinne  und  zum  Zweck  des  Theaters  geprüft  werden  sollen.  Schema- 
tischer  Aufbau  der  einzelnen  Teile  soll  die  Kräfte  und  Mittel  der 
Konstruktion  entdecken  und  abwägen,  wobei  das  Gesetz  des  Gegen- 
satzes im  Sinne  des  Mit-  und  Auseinandergehens  in  erster  Linie 
verwendet  sein  soll  -  Farbe,  Klang,  Bewegung  in  daraus  entstehen- 
den Zusammenhängen  und  zeitlichen  Zusammenwirkungen. 
Dem  schöpferischen  Geist  werden  diese  Vorarbeiten  zum  Schaffen 
des  lebenden  Werkes  als  Werkzeuge  dienen. 


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Tanzkurven 


In  «Tanzkurven»,  einem  1926  im  Kunstblatt  erschienenen  Essay, 
weist  Kandinsky  auf  eine  Möglichkeit  der  Bühnensynthese  hin. 
Die  Tänzerin  Gret  Palucca  hatte,  ursprünglich  von  Mary  Wieg- 
mann ausgehend,  eine  Tanzform  geschaffen,  bei  der  vollständige 
akrobatische  Beherrschung  des  körperlichen  Ausdrucks  und  be- 
wußte Raumwirkung  einer  einzelnen  Figur  auf  der  Bühne  neue 
Wege  wiesen.  Gret  Palucca  tanzte  im  Laufe  der  Zwanzigerjahre 
mehrmals  auf  der  Bauhaus-Bühne. 


Zu  den  Tänzen  der  Palucca. 

Die  vollkommene  Meisterschaft  ist  ohne  Exaktheit  unmöglich.  Die 
Exaktheit  ist  das  Resultat  langer  Arbeit.  Die  Anlage  zur  Exaktheit 
ist  aber  angeboren  und  eine  überaus  wichtige  Bedingung  der  großen 
Begabung. 

Paluccas  Tanz  ist  vielseitig  und  kann  von  verschiedenen  Stand- 
punkten beleuchtet  werden.  Was  ich  aber  hier  unterstreichen  möchte , 
ist  der  selten  genaue  Aufbau  nicht  bloß  des  Tanzes  in  der  zeitlichen 
Entwicklung,  sondern  in  erster  Linie  der  exakte  Aufbau  einzelner 
Momente,  die  durch  Momentaufnahmen  fixiert  werden. 
Einige  Beispiele  bringen  zwei  wichtige  Charakterzüge  dieses  Auf- 
baues : 

1 .  die  Einfachheit  der  ganzen  Form  und 

2.  das  Aufbauen  auf  der  großen  Form. 

Es  mag  für  den  Laien  einfach  klingen  -  der  Künstler  weiß  aber 
diese  Eigenschaften  zu  schätzen:  die  einfache  und  große  Form  wird 
nur  wenigen  gegeben. 


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Nichts  kann  besser  meine  Behauptung  beweisen,  als  die  Übersetzung 
der  drei  Momentaufnahmen  in  grafische  Schemata. 
Die  Exaktheit  reißt  auch  die  Falten  und  Zipfel  der  Kleidung  mit. 
Auch  die  «tote  Materie»  unterordnet  sich  dem  großen  Aufbau. 


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Die  Momentaufnahme  bietet  abgerissene  starre  Formen,  die  einmal 
der  Anfang  einer  Entwicklung  ist,  einmal  der  Schlußpunkt.  Das 
organische  langsame  Entstehen  der  Form,  die  Übergangsstadien 
bleiben  aus  und  können  nur  durch  Zeitlupe  erreicht  werden,  die  das 
Feld  der  Beobachtungen  in  einer  überraschenden  Weise  erweitert. 
Der  Tanz  Paluccas  sollte  unbedingt  mit  Zeitlupe  aufgenommen  werden, 
wodurch  eine  exakte  Prüfung  dieses  exakten  Tanzes  ermöglicht 
würde. 

Ich  möchte  nicht  mißverstanden  werden  -  ich  habe  hier  nur  eine 
Seite  der  Kunst  Paluccas  beleuchtet.  Aber  gerade  diese  eine  Seite  ist 
gerade  heute  von  einer  besonderen  Wichtigkeit :  wir  stehen  unter  dem 
Zeichen  einer  aufgehenden  Kunstwissenschaft.  Ich  hoffe  mit  Sicher- 
heit, daß  Palucca  auch  auf  diesem  Gebiet  Wertvolles  beitragen  wird. 


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Der  Wert  des  theoretischen  Unterrichts  in  der  Malerei 

«Der  Wert  des  theoretischen  Unterrichts  in  der  Malerei»  entstand 
1926  für  No  1  der  Zeitschrift  baubaus,  herausgegeben  in  Dessau 
von  Walter  Gropius  und  Ladislaus  Moholy-Nagy.  Kandinsky  setzt 
sich  hier  vor  allem  mit  dem  «Unterricht»  in  der  Malerei  auseinander, 
so  wie  er  um  jene  Zeit  am  Bauhaus  aufgefaßt  wurde.  In  der  Gruppe 
2  stellt  Kandinsky  dar,  was  er  darunter  versteht:  Malerei  als  zen- 
traler Ausgangspunkt,  aber  mit  der  Möglichkeit,  ihre  Grenzen  zu 
überschreiten.  Gewissermaßen  Malerei  als  «Allgemeinbildung». 


Beim  Unterricht  in  der  Malerei  können  verschiedene  Methoden  ver- 
verwendet werden,  wobei  aber  diese  Methoden  in  zwei  große  Gruppen 
geteilt  bleiben : 

1.  die  Malerei  wird  als  Selbstzweck  behandelt,  das  heißt  der  Stu- 
dierende wird  zum  Maler  ausgebildet:  er  bekommt  auf  der  Schule 
die  dazu  notwendigen  Kenntnisse  -  soweit  es  durch  den  Unter- 
richt zu  erreichen  ist  -  und  braucht  nicht  unbedingt  die  Grenzen 
der  Malerei  zu  überschreiten,  oder 

2.  die  Malerei  wird  als  eine  mitorganisierende  Kraft  behandelt,  das 
heißt  der  Studierende  wird  über  die  Grenzen  der  Malerei,  aber  durch 
ihre  Gesetzmäßigkeit  zum  synthetischen  Werk  geleitet. 

Dieser  zweite  Standpunkt  bildet  die  Grundlage  des  malerischen 
Unterrichts  im  Bauhause.  Auch  hier  können  natürlich  verschiedene 
Methoden  verwendet  werden.  Was  speziell  meine  Richtlinie  anlangt, 
so  muß  meiner  Meinung  nach  folgendes  als  Hauptzweck  und  schließ- 
lich als  Endzweck  diese  Richtlinie  lenken: 

1.  Analyse  der  malerischen  Elemente  in  ihrem  äußeren  und  inneren 
Wert, 


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2.  Beziehungen  dieser  Elemente  zu  denjenigen  der  anderen  Künste 
und  der  Natur, 

3.  Aufbau  der  malerischen  Elemente  in  thematischer  Form   (Lö- 
sungen thematischer  planmäßiger  Aufgaben)  und  im  Werk, 

4.  Beziehungen  dieses  Aufbaues  zu  anderen  Künsten  und  zur  Natur, 

5.  Gesetzmäßigkeit  und  Zweckmäßigkeit. 

Ich  muß  mich  hier  mit  dieser  allgemeinen  Richtungsangabe  begnügen, 
da  die  Einzelheiten  nicht  in  den  Raum  einer  Zeitung  passen.  Aber 
auch  dieses  kurze  Schema  zeigt,  wohin  ich  hinaus  will.  Es  hat  tat- 
sächlich bis  jetzt  kein  planmäßiges  analytisches  Denken  in  Kunst- 
fragen gegeben,  und  analytisch  denken  können  heißt  logisch  denken 
können.  Es  wäre  hier  nicht  angebracht,  über  die  Kunstschulen  aus- 
führlicher zu  sprechen,  die  zum  Zweck  die  Malerei  als  solche  haben, 
das  heißt  wo  sie  Selbstzweck  ist,  obwohl  ich  allmählich  zur  Über- 
zeugung kam,  daß  auch  in  dieser  Art  Schulen  der  frühere  Weg  der 
sehr  knappen  wissenschaftlichen  «Beigabe»  in  Form  von  Anatomie, 
Perspektive  und  Kunstgeschichte  weiter  nicht  mehr  gangbar  ist: 
auch  die  «reine»  Kunst  bedarf  heute  einer  exakteren,  konsequenten 
wissenschaftlichen  Grundlage.  Das  einseitige  Betonen  des  intuitiven 
Elementes  und  die  damit  verbundene  «Zwecklosigkeit»  der  Kunst 
haben  öfters  den  jungen  Künstler  (und  wenn  es  nur  der  «junge» 
Künstler  wäre!)  zu  ungeschickten,  von  der  Kunst  ablenkenden  Fol- 
gerungen gebracht.  Als  Beispiel  aus  der  heutigen  Zeit  würde  die 
«neue  Sachlichkeit»  genügen,  die  der  Kunst  «politische»  Zwecke  zu 
stellen  versucht  -  die  Verwirrung  hat  ihr  höchstes  Maß  erreicht. 
Der  junge  und  besonders  der  anfangende  Künstler  muß  von  vorn- 


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herein  an  ein  objektives,  das  heißt  wissenschaftliches  Denken  ge- 
wöhnt werden.  Er  soll  verstehen,  seinen  Weg  abseits  der  «Ismen»  zu 
suchen,  die  in  der  Regel  nicht  zum  Kern  streben,  sondern  schnell 
vergängliche  Einzelheiten  für  Grundfragen  halten.  Die  Fähigkeit, 
sich  zu  fremden  Werken  objektiv  zu  stellen,  schließt  die  eigene  Ein- 
seitigkeit in  eigener  Arbeit  nicht  aus,  was  natürlich  und  vollkommen 
gesund  ist:  im  eigenen  Werk  darf  (vielmehr  «muß»)  der  Künsder 
einseitig  sein,  da  die  Objektivität  in  diesem  Falle  zu  innerer  Ver- 
schwommenheit führen  könnte.  Er  soll  in  eigener  Arbeit  nicht  nur 
einseitig,  sondern  fanatisch  sein:  zum  entwickelten  Fanatismus  gehö- 
ren aber  viele  Jahre  gewaltiger  innerer  Spannung. 
Durch  Vertiefung  in  die  Elemente,  welche  die  Bausteine  der  Kunst 
sind,  bekommt  der  Studierende  -  außer  der  Fähigkeit  des  logischen 
Denkens  -  die  notwendige  innere  Fühlung  zu  den  Kunstmitteln. 
Diese  einfache  Behauptung  darf  nicht  unterschätzt  werden :  die  Mit- 
tel werden  durch  den  Zweck  bestimmt  -  so  wird  der  Zweck  durch 
die  Mittel  verstanden.  Die  innere,  vertiefte  Bestimmung  der  Mittel 
und  der  gleichzeitig  unbewußte  und  bewußte  Verkehr  mit  den  Mit- 
teln verwerfen  die  der  Kunst  fremden  Zwecke,  die  dadurch  un- 
natürlich und  abstoßend  wirken.  Hier  dient  also  tatsächlich  das  Mit- 
tel dem  Zweck. 

Das  Sich  verwandtfühlen  mit  den  Elementen  einer  Kunst  steigt  weiter 
in  seiner  Intensität  bei  dem  Studium  der  Beziehungen  dieser  Ele- 
mente zu  denjenigen  anderer  Künste,  was  ohne  weiteres  klar  ist. 
Die  Beziehungen  der  Kunstelemente  überhaupt  zu  denjenigen  der 
Natur  bringen  die  ganze  Frage  auf  eine  noch  breitere  philosophische 


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Basis,  was  ebenso  ohne  weiteres  klar  ist.  So  geht  der  Weg  vom  Syn- 
thetischen in  der  Kunst  zum  Allgemein- Synthetischen  über.  Wenn 
man  heute  wirklich  nicht  weiß,  was  eigentlich  unter  dem  Begriff 
«Bildung»,  «Gebildetsein»  verborgen  ist  oder  sein  sollte,  so  darf 
doch  mit  vollem  Recht  behauptet  werden,  daß  nicht  eine  kleinere 
oder  größere  Anhäufung  von  speziellen  Kenntnissen  (sogenannte 
«Fachkenntnisse»)  hier  die  Hauptrolle  spielen  oder  den  Hauptbe- 
standteil ausmachen,  sondern  die  ausgebildete  Fähigkeit,  das  schein- 
bar zerrissene  Bild  der  Einzelerscheinungen  in  den  organischen 
Zusammenhängen  zu  empfinden  und  schließlich  zu  «verstehen». 
Und  andererseits :  das  Fehlen  dieser  Fähigkeit  darf  trotz  dem  Vor- 
handensein von  «enzyklopädischen  Fachkenntnissen»  als  Merkmal 
des  ungebildeten  Menschen  angesehen  werden. 
Und  endlich:  eine  Schule,  die  dem  Studierenden  das  planmäßige 
Erkennen  der  allgemeinen  Basis  zu  übermitteln  nicht  imstande  ist, 
darf  sich  nicht  «Schule»  nennen  -  ganz  besonders,  wenn  sie  als 
Hochschule  angesehen  werden  möchte. 

Ganz  abgesehen  vom  prinzipiell  unbestreitbaren  Wert  der  «Bildung» 
im  ungefälschten  Sinne  wäre  diese  Schulbildung  ein  gewaltiges 
Mittel  gegen  die  extreme  Spezialisierung,  die  wir  aus  dem  vergangenen 
Jahrhundert  übernommen  haben,  und  die  nicht  nur  aus  allgemein- 
philosophischen, sondern  auch  aus  rein  praktischen  Gründen  zu 
bekämpfen  ist.  In  der  Praxis  ist  die  extreme  Spezialisierung  eine 
dicke  Mauer,  die  uns  vom  synthetischen  Schaffen  trennt.  Ich  darf 
wohl  hoffen,  daß  ich  manche,  heute  allgemein  bekannte  Tatsachen 
nicht  zu  beweisen  brauche:  zum  Beispiel  die  Gesetzmäßigkeit  des 


82 


o 


&c 


malerischen  Aufbaues.  Und  trotzdem  ist  die  prinzipielle  Anerkennung 
dieser  Tatsache  für  den  Studierenden  nicht  ausreichend  -  sie  muß 
in  sein  Inneres  eingepflanzt  werden  und  zwar  so  gründlich,  daß  sie  in 
seine  Fingerspitzen  von  selbst  eindringt:  der  bescheidene  oder  ge- 
waltigste «Traum»  des  Künstlers  hat  an  und  für  sich  keinen  Wert  - 
solange  die  Fingerspitzen  nicht  imstande  sind,  dem  «Diktat»  dieses 
Traumes  mit  höchster  Präzision  zu  folgen.  Für  diesen  Zweck  müssen 
mit  dem  theoretischen  Unterricht  praktische  (thematische)  Übungen 
verbunden  werden :  was  nützt  ein  herrliches  Kochbuch  ohne  Lebens- 
mittel und  Kochtöpfe?  Und:  nur  ein  wiederholtes  Verbrennen 
eigener  Fingerspitzen  bringt  den  Anfänger  vorwärts.  Die  Gesetz- 
mäßigkeit in  der  Natur  ist  lebendig,  da  sie  das  Statische  und  das 
Dynamische  in  sich  vereinigt  und  in  dieser  Beziehung  ist  sie  der  Ge- 
setzmäßigkeit in  der  Kunst  gleichwertig.  Also  außer  der  philoso- 
phisch-bildenden Wichtigkeit  für  jeden  Menschen  ist  die  Erkenntnis 
der  Naturgesetzmäßigkeit  für  den  Künstler  unumgänglich.  Diese 
einfache  Tatsache  bleibt  aber  den  Kunsthochschulen  leider  voll- 
kommen fremd. 


Folgendes  Schema  soll  den  knappen  Sinn  dieses  kurzen  Artikels  in 
sich  aufnehmen : 


84 


Mittel 

1.  Analyse  der  malerischen 
Elemente, 

2.  Beziehungen  zu  anderen 
Künsten  und  zur  Natur, 

3.  Aufbau  der  malerischen 
Elemente  in  thematischer 
Form  und  im  Werk, 

4.  Beziehungen  zu  anderen 
Künsten  und  zur  Natur, 


5.  Gesetzmäßigkeit  und 
Zweckmäßigkeit, 


Zweck 

analytisches  (allgemein-logisches) 
Denken. 

synthetisches  Denken.  Fähigkeit 
das  Getrennte  zu  vereinigen, 
theoretische  und  praktische  Ge- 
setzmäßigkeit und  relativer  Wert 
derselben  in  der  Praxis, 
synthetisches  Schaffen  und  Werk 
und  das  Erkennen  des  schöpfe- 
rischen Prinzips  in  der  Natur  und 
innere  Verwandtschaft  derselben 
mit  der  Kunst. 

Ausbildung  der   «Fingerspitzen» 
und  Ausbildung  des  Menschen. 


Es  ist  klar,  daß  außer  der  Malerei  auch  andere  Künste  diesem  päd- 
agogischen Ziele  dienen  könnten.  Es  ist  aber  ebenso  klar,  daß  im 
Bauhause  gerade  die  Malerei  die  geeignetste  Erzieherin  sein  soll: 

1.  die  Farbe  und  ihre  Verwendung  finden  in  den  sämtlichen  Werk- 
stätten Platz,  wo  also  die  beschriebene  Methode  auch  rein  praktischen 
Zwecken  dient,  und 

2.  die  Malerei  ist  diejenige  Kunst,  die  seit  Jahrzehnten  an  der  Spitze 
der  sämtlichen  Kunstbewegungen  voranging  und  die  anderen 
Künste  -  speziell  die  Architektur  -  befruchtete. 


85 


(U 


und 


«und»  erschien  in  der  internationalen  Zeitschrift  HO  No  1/1  1927, 
in  Amsterdam.  Der  Untertitel  «Einiges  über  synthetische  Kunst» 
weist  auf  das  Problem  hin,  das  Kandinsky  sich  stellte.  Eben  war  er 
60  Jahre  alt  geworden  und  stand  wieder,  wie  um  1912,  nach  Er- 
scheinen von  über  das  Geistige  in  der  Kunst  und  Der  Blaue  Reiter, 
inmitten  der  Kunstdiskussion.  Sein  neues  Buch  Punkt  und  Linie  ?u 
Fläche  war  eben  erschienen.  Das  «und»  hatte  für  Kandinsky  einen 
speziellen  Sinn.  Er  stellte  es  jeweils  dem  «entweder-oder»  ent- 
gegen. So  auch  hier.  Der  Entscheidung  «entweder-oder»  setzte 
er  das  synthetische  «und»  entgegen. 


Es  ist  kein  reiner  Zufall,  daß  die  Jahrhunderte  sich  manchmal  scharf 
voneinander  unterscheiden. 

Als  das  20.  Jahrhundert  in  Sicht  war  und  die  Frage  aufgeworfen 
wurde,  wann  es  eigentlich  als  begonnen  angesehen  sein  darf,  als  das 
19.  Jahrhundert  die  letzten  Jahre  vor  sich  hatte,  hörte  das  bereits 
scharfe  Ohr  ein  immer  deutlicher  werdendes  «unterirdisches»  Don- 
nern. 

Es  nahte  die  «Umwälzung». 

Aber  die  Oberfläche  war  ruhig,  unbewegt,  erstarrt. 
Fast  das  ganze  19.  Jahrhundert  war  eine  mehr  oder  weniger  ruhige 
Arbeit  am  Ordnen. 

Das  Ordnen  geschah  auf  der  Basis  der  Absonderung,  Zerteilung. 
Zur  selben  Zeit  ist  die  Spezialisierung  Ursache  und  Folge  geworden. 
Die  Spezialisierung  führte  zur  Ordnung.  Die  Ordnung  -  zur  Spe- 
zialisierung. 

Die  Spezialisierung  wurde  seit  den  ersten  Fortschritten  der  Maschine 
von  Nationalökonomen  zum  Ideal  der  Arbeitsordnung  und  der  nor- 


87 


malen  Produktion  gemacht:  minimale  Anstrengung  und  maximales 
Resultat.  Jeder  Arbeiter  -  manuell  oder  geistig  -  wurde  zu  äußerster 
Spezialisierung  getrieben  und  wurde  das,  was  man  noch  heute  der 
«Fachmann»  nennt. 

Ein  viel  komplizierteres  Schema  würde  die  Wissenschaft  abgeben. 
Das  Prinzip  bleibt  aber  das  gleiche  -  der  Astronom  hatte  ebenso- 
wenig für  Sanskrit  übrig,  wie  ein  Musiker  für  Plastik.  Auf  dieser 
Basis  wurden  Hochschulen  allermöglicher  Arten  aufgebaut,  die  sehr 
durchgebildete  Spezialisten  und  vollkommen  ungebildete  Menschen 
herstellten.  Und  heute  herstellen. 

Obwohl  der  «unterirdische»  Donner  im  Anfang  des  20.  Jahrhunderts 
die  erstarrte  Oberfläche  durchbohrte,  sie  in  vielen  Stellen  aufriß  und 
sich  in  verschiedensten  «Katastrophen»  materialisierte,  die  noch  heute 
die  sämtlichen  Gebiete  des  «Lebens»  bedrohen,  erschüttern  oder  ver- 
nichten, bleibt  die  beschriebene  «Ordnung»  in  voller  Kraft. 
Die  Spezialisierung  verlangt  nach  einer  Wahl,  nach  Zerteilung  und 
Absonderung.  Auch  der  heutige  Mensch  steht  noch  unter  dem 
Zeichen  entweder-oder. 

Diese  zwei  Worte  reichen  zur  erschöpfenden  Charakteristik  des 
19.  Jahrhunderts  und  wir  haben  sie  in  unsere  Zeit  als  Prinzip  über- 
nommen. Beispiele  dafür  liefert  jeder  Tag  auf  allen  Gebieten  -  sei 
es  Kunst,  Politik,  Religion,  Wissenschaft  undso weiter. 
Von  außen  gesehen  kann  unsere  Zeit  im  Gegensatz  zur  «Ordnung» 
des  letzten  Jahrhunderts  -  ebenso  mit  einem  Wort  bezeichnet  wer- 
den -  Chaos. 
Die  größten  Widersprüche,  die  entgegengesetztesten  Behauptungen, 


88 


das  Negieren  des  Ganzen  zu  Gunsten  des  Einzelnen,  Umwerfen  des 
Gewohnten  und  Versuche,  das  Umgeworfene  sofort  wieder  aufzu- 
richten, das  Zusammenprallen  der  verschiedensten  Ziele  bilden  eine 
Atmosphäre,  die  den  heutigen  Menschen  zum  Verzweifeln  und  zu 
einer  scheinbar  noch  nie  dagewesenen  Verwirrung  führt. 
Der  heutige  Mensch  wird  fortwährend  vor  die  rasche  Wahl  gestellt: 
er  soll  unverzüglich  eine  Erscheinung  bejahen  und  die  andere  ab- 
lehnen -  entweder-oder,  wobei  die  beiden  Erscheinungen  als  rein 
äußere  und  ausschließlich  äußerlich  betrachtet  werden.  Darin  liegt 
die  Tragik  der  Zeit.  Neue  Erscheinungen  werden  von  der  alten  Basis 
aus  betrachtet  und  auf  eine  tote  Art  behandelt.1 

So  wie  seinerzeit  das  feine  Ohr  in  der  Ordnungsruhe  das  Donnern 
hörte,  kann  das  scharfe  Auge  im  Chaos  eine  andere  Ordnung  erraten. 
Diese  Ordnung  verläßt  die  Basis  «entweder-oder»  und  erreicht  lang- 
sam eine  neue  -  und.  Das  20.  Jahrhundert  steht  unter  dem  Zei- 
chen «und». 

Dieses  «und»  ist  aber  nur  die  Folge.  Die  Ursache  ist  das  langsam, 
fast  unsichtbar  vorsichgehende  Verlassen  des  früheren  Bodens  des 
Äußeren  (Form)  und  das  Erreichen  eines  neuen  Bodens  des  Inneren 
(Inhalt). 

1  Ein  einfaches  Beispiel  ist  das  Gegenüberstellen  der  abstrakten 
Kunst  und  der  «Neuen  Sachlichkeit».  Der  verzweifelte  Kunst- 
theoretiker muß  sich  zu  einer  von  beiden  bekehren  und  sie  in 
Schutz  nehmen.  Es  ist  kein  Wunder,  daß  er  manchmal  in  höchster 
Verzweiflung,  die  er  natürlich  verbergen  will,  ausruft:  «Weiß  der 
Himmel,  wer  schließlich  Sieger  bleibt!»  Dieser  Zustand  wird  sich 
erst  dann  ändern,  wenn  die  Formfrage  als  eine  der  Inhaltfrage  unter- 
ordnete angesehen  wird. 


89 


Ich  kann  hier  keine  Beweise  für  meine  Behauptung  bringen,  da  es 
über  die  Grenzen  eines  kurzen  Artikels  führen  würde. 
Ich  glaube  aber,  daß  ein  aufmerksames  Beobachten  verschiedener 
menschlicher  Gebiete,  eine  geduldige  Analyse  verschiedener  Zu- 
sammenstöße und  Bekämpfungen  die  fehlenden  Beweise  in  Fülle 
liefern  wird. 

Die  innere  Notwendigkeit  muß  manchmal  große  Umwege  machen 
um  ihr  Ziel  zu  erreichen.  In  der  Malerei  zum  Beispiel  ist  die  innere 
Wertung  des  «Materials»  erst  nach  einer  langjährigen  theoretischen 
Arbeit  an  «technischen»  Fragen  möglich  geworden. 
Das  genaueste  Erkennen  des  Äußeren  im  Material  ist  nicht  imstande, 
die  Kunstfragen  über  die  Grenzen  des  «Technischen»  zu  setzen  und 
dient  schließlich  immer  weiter  der  Absonderung,  was  selbstverständ- 
lich die  Annäherung  unerreichbar  macht. 

Oder :  das  Erkennen  des  Äußeren  kann  nur  in  dem  Falle  eine  Tür  in 
die  Zukunft  werden,  wenn  dieses  Erkennen  eine  Brücke  zum  Inneren 
schlägt. x 

Von  diesem  Standpunkt  der  Umwege  entschleiert  sich  der  revo- 
lutionäre Weg  als  ein  Evolutionsvorgang.  Glattes  Fließen  und  Stöße 
bilden  in  der  historischen  Perspektive  gewöhnlich  eine  gerade  Schnur. 
Manchmal  wird  sie  unsichtbar  -  dann  erscheint  sie  zerrissen. 
Zur  Zeit  der  exklusiven  Absonderung  in  der  Kunst  sind  drei  ver- 
schiedene Reste  der  früheren  synthetischen  Kunst  zu  sehen  : 


1  Einen  Versuch  in  dieser  Richtung  habe  ich  in  meinem  Buch 
«Punkt  und  Linie  zu  Fläche»  gemacht:  die  Analyse  des  Äußeren 
der  Form  soll  Wegweiser  zu  ihrem  Inneren  aufstellen. 


90 


1.  die  Kirche 

2.  das  Theater 

3.  der  Bau. 

Im  Bau  ist  das  Zusammenhängen  der  drei  bildenden  Künste  (Archi- 
tektur, Malerei  und  Plastik)  rein  äußerlich  geworden  und  entbehrt 
jeder  inneren  Notwendigkeit  -  typisches  19.  Jahrhundert. 
In  den  beiden  alten  synthetischen  Formen  des  Theaters  -  Oper  und 
Ballett  -  wurde  auch  im  19.  Jahrhundert  außer  dem  äußeren  «Effekt» 
auch  das  innere  Wirken  auf  den  Menschen  gesucht,  was  die  Bestre- 
bungen Wagners  in  der  Oper  möglich  machte. 

Man  kann  es  für  ziemlich  bewiesen  halten,  daß  in  der  alten  russischen 
Kirche  die  sämtlichen  Künste  gleichmäßig  und  gleichberechtigt  einem 
Zweck  dienten  -  Architektur,  Malerei,  Plastik,  Musik,  Dichtung 
und  Tanz  (Bewegung  der  Geistlichen).1  Hier  war  die  Absicht  eine 
rein  innere  -  Gebet. 

Dieses  Beispiel  ist  besonders  wichtig,  da  noch  heute  in  verschiedenen 
Ländern  Versuche  gemacht  werden,  Kirchen  im  alten  Stil  zu  bauen, 
was  jedes  Mal  und  ohne  Ausnahme  leblose  Baugebilde  zur  Folge  hat. 
Die  sehr  verbreitete  Ansicht,  die  «verlorene  Formel»  könnte  diese 
Mißerfolge  beseitigen,  ist  oberflächlich.  Jede  richtige  Formel  ist  an 
sich  nichts  weiter,  als  der  exakte,  richtige  Ausdruck  einer  bestimmten 


1  Es  wäre  wichtig,  verschiedene  Religionen  von  diesem  Stand- 
punkt zu  untersuchen.  In  Bezug  auf  russische  Kirche  hat  in  dieser 
Richtung  der  Komponist  Alexander  Schenschin,  Moskau,  sehr 
wertvolle  Beobachtungen  gemacht,  die  leider  noch  nicht  ver- 
öffentlicht sind.  Es  ist  eine  und  dieselbe  Formel  in  sämtlichen  er- 
wähnten Künsten  gefunden  worden. 


91 


Epoche.  Also  ist  jede  Epoche  berufen  und  verpflichtet,  eine  ihr 
entsprechende  und  sie  zum  Ausdruck  bringende  Formel  neu  zu 
schaffen. 

Schon  vor  mehreren  Jahrzehnten  zur  Zeit  der  toten  Friedhofsordnung 
ist  die  Malerei  das  erste  Gebiet  gewesen,  auf  dem  «unerwartete»  und 
«unverständliche»  Explosionen  «plötzlich»  in  einer  immer  tempera- 
mentvolleren Folge  vor  sich  gingen.  Die  Malerei  suchte  nach  «neuen 
Formen»  und  noch  sehr  wenige  wissen,  daß  dies  ein  unbewußtes 
Suchen  nach  dem  neuen  Inhalt  war. 
Diese  Bestrebungen  zogen  sofort  zwei  wichtige  Folgen  nach  sich: 

1.  das  weitere  Absondern  der  Malerei  vom  «Leben»,  die  konsequente 
Vertiefung  in  eigene  Ziele,  Ausdrucksmittel  und  Möglichkeiten  und 

2.  gleichzeitig  das  natürliche  und  lebhafte  Interesse  für  die  Ziele, 
Ausdrucksmittel  und  Möglichkeiten  in  anderen  Künsten  -  zuerst  in 
der  Musik. 

Die  erste  Folge  führte  zur  weiteren,  aber  besonders  exakten  theore- 
tischen und  praktischen  Analyse,  die  heute  zur  malerischen  Synthese 
verhilft. 

Die  zweite  Folge  legte  den  Grundstein  zum  Aufbau  der  synthetischen 
Kunst  im  allgemeinen.  Hier  sind  lediglich  Einzelfälle  festzustellen. 
Der  erste  Versuch,  zwei  Künste  organisch  für  ein  Werk  zu  vereinigen, 
ist  der  Prometheus  von  Skrjabin  -  paralleles  Laufen  der  musikalischen 
und  der  malerischen  Elemente.  Der  Zweck  ist  die  Verstärkung  der 
Mittel  zum  Ausdruck. 

So  wurde  zum  ersten  Mal  eine  im  19.  Jahrhundert  errichtete  Mauer 
zwischen  zwei  Künsten  umgeworfen. 


92 


Dies  geschah  aber  auf  dem  allgemeinen  Gebiet  der  Kunst  (siehe 
III  Teilung)  und  war  der  Anfang  der  Mauernzerstörung  auf  dem 
von  anderen  Gebieten  abgesonderten  Kunstboden.  Seitdem  häufen 
sich  die  weiteren,  noch  bis  heute  in  Kinderschuhen  steckenden  Ver- 
suche auf:  Farbenorgel  (England,  Amerika,  Deutschland),  farbige 
Lichtspiele  mit  Musik  (Deutschland),  abstrakte  Filme  mit  Musik 
(Frankreich,  Deutschland).1 

Ähnliche  Erscheinungen  treten  im  Tanz  auf  (Rußland,  Deutschland, 
Schweiz),  der  den  bereits  von  der  Malerei  vor  Jahrzehnten  einge- 
schlagenen Weg  betrat  und  sich  ebenso  in  zwei  Richtungen  ent- 
wickelt : 

1.  der  Tanz  als  Selbstzweck  und 

2.  der  Tanz  als  Einzelelement  im  Gesamtwerk  -  Tanz,  Musik, 
Malerei  (Kostüm  und  Bühne). 

Allerdings  wird  in  solchen  Werken  der  Tanz  gewöhnlich  als  Haupt- 
element betrachtet,  dem  die  übrigen  untergeordnet  werden.  Hier  ist 
aber  noch  eine  andere  Annäherung  entstanden,  die  prinzipiell  eine 
große  Bedeutung  in  der  Mauererschütterung  hat  -  der  Tanz  über- 
nimmt Elemente  der  Akrobatik  (Deutschland),  was  andererseits  auch 
im  ganzen  Theaterwesen  immer  häufiger  vorkommt  (Rußland).  So 
fallen  Mauern  zwischen  Gebieten,  die  noch  vor  kurzem  als  voll- 
kommen voneinander  abgesondert  und  sogar  teils  feindlich  zuein- 


1  Ich  habe  vor  Jahren  einen  Versuch  gemacht,  verschiedene  Künste 
in  einem  Werk  zu  verwenden,  aber  nicht  im  Prinzip  der  Parallele, 
sondern  des  Gegensatzes  -  «Gelber  Klang»  in  «Der  blaue  Reiter», 
Piper- Verlag  München,  1912. 


93 


ander  stehende  aufgefaßt  wurden:  Theater,  Kammersaal  und  Zirkus.1 
Es  soll  hier  im  Vorübergehen  bemerkt  werden,  daß  die  außerordent- 
liche Anziehungskraft,  welche  die  Malerei  in  den  letzten  Jahrzehnten 
ausübte  (in  Paris  leben  noch  heute  an  die  40  000  Maler,  München 
hatte  vor  dem  Krieg  eine  Kunstakademie,  eine  Damenakademie  und 
über  40  Privatschulen),  kein  «Zufall»  ist. 

Die  Natur  ist  verschwenderisch,  wenn  sie  eine  große  Aufgabe  vor 
sich  hat,  und  ihr  Gesetz  beherrscht  nicht  allein  das  materielle  Leben, 
sondern  im  selben  Maße  das  geistige.  Der  Krieg  oder  die  Kriege, 
die  Revolutionen  im  politischen  Leben  wurden  auf  dem  Kunst- 
gebiete Jahrzehnte  vorher  erlebt  -  in  der  Malerei.  Die  größten 
Spannungen  mußten  sich  unbedingt  hier  entwickeln,  da  die  Malerei 
außer  ihren  eigenen  die  bedeutungsvolle  Aufgabe  hatte,  die  sämt- 
lichen Künste  zu  befruchten  und  ihre  Entwicklung  auf  richtige 
Bahnen  zu  leiten. 

Vom  Gebiete  der  Malerei  gingen  noch  weitere  Anregungen  aus 
und  von  hier  aus  wurden  noch  festere  Mauern  des  vergangenen 
Jahrhunderts  erschüttert  und  teils  bereits  vernichtet.  Diese  Anre- 
gungen verlassen  den  Boden  der  Kunst  und  greifen  viel  weiter  um 
sich  herum. 

Die  fast  providentiell  festgelegten  Unterschiede  zwischen  Kunst  und 
Wissenschaft  (besonders  der  «positiven»)  werden  konsequent  unter- 


1  Von  spezifischer  Bedeutung  für  unsere  Zeit  ist  die  entstandene 
Wertung  von  Zirkus  und  Kino,  die  bis  jetzt  als  niedere  und  ent- 
artete Angelegenheiten  betrachtet  wurden,  die  nicht  zu  den  Ge- 
bieten der  Kunst  gerechnet  werden  durften. 


94 


sucht  und  es  wird  ohne  besondere  Mühe  klar,  daß  die  Methoden,  das 
Material  und  die  Behandlung  desselben  keine  wesentlichen  Unter- 
schiede auf  beiden  Gebieten  aufweisen.  Es  entsteht  die  Möglichkeit 
für  den  Künstler  und  für  den  Wissenschaftler  gemeinsam  an  einer  und 
derselben  Aufgabe  zu  arbeiten  (Allrussische  Akademie  der  Kunst- 
wissenschaften, Moskau,  gegründet  1921). 

Zum  Unterschied  zu  der  ersten  gefallenen  Mauer  (zwischen  der 
Musik  und  der  Malerei  -  III  Teilung)  wird  hier  eine  Mauer  zer- 
stört, die  zwei  noch  viel  weiter  voneinander  liegende  Gebiete  trennte 
(siehe  II  Teilung). 

Die  analytische  Arbeit  auf  jedem  der  beiden  Gebiete  wird  zur  syn- 
thetischen Arbeit  auf  beiden.  Es  entsteht  eine  theoretische  Synthese, 
die  der  praktischen  Synthese  den  Weg  ebnet. 

Denselben  prinzipiellen  Wert  hat  eine  andere  Anregung  und  die 
darauffolgende  Arbeit,  die  ebenso  von  der  Malerei  ausgingen  -  das  Fal- 
len der  Mauer  zwischen  Kunst  und  Technik  und  die  daraus  folgende 
Annäherung  der  beiden  früher  stark  getrennten  und,  wie  es  allgemein 
aufgefaßt  wurde,  der  beiden  zueinander  feindlich  stehenden  Gebiete. 
Die  erste,  aber  sehr  undeutliche  Anregung  dazu  ist  in  den  «plötzlich» 
wieder  lebendig  gewordenen  Kunstgewerbeschulen  zu  sehen,  die  in 
verschiedenen  Ländern  noch  vor  dem  Krieg  ständig  in  der  Anzahl 
wuchsen  (Deutschland,  Österreich,  Rußland). 

Fast  in  demselben  Jahr  sind  nach  dem  Krieg  zwei  neue  Schulen 
-  voneinander  unabhängig  -  entstanden,  die  sich  zur  Aufgabe 
stellten,  die  Kunst  mit  dem  Handwerk  und  schließlich  mit  der 
Industrie  zu  verbinden : 


95 


1.  Hohe  Kunsttechnische  Werkstätten  in  Moskau,  1918. 

2.  Staatliches  Bauhaus  in  Weimar,  1919. 

Im  Gegensatz  zu  der  üblichen  Kunstgewerbeschule,  die  den  Haupt- 
platz der  Kunst  einräumt,  und  teils  die  Technik  als  ein  unterordnetes  und 
manchmal  störendes  Element  auffaßt,  suchen  die  beiden  erwähnten 
Hochschulen,  beide  Elemente  gleichwertig  zu  stellen  und  gleich- 
berechtigt im  Werk  zu  vereinigen.  Es  war  eine  natürliche  Folge  der 
früheren  Einstellung  und  eine  natürliche  Reaktion  gegen  dieselbe, 
daß  die  erste  Zeit  die  beiden  Schulen  die  Kunst  als  Mitelement  unter- 
schätzten und  das  Hauptgewicht  auf  das  Technische  übertrugen. 
Das  war  die  übliche  Wirkung  des  Pendelgesetzes. 

Das  Bauhaus  (jetzt  in  Dessau)  entwickelt  sich  immer  weiter  auf  dem 
Wege  der  ausgeglichenen  Behandlung  der  beiden  Faktoren  und  ist 
anscheinend  zur  richtigen  Lösung  dieses  schwierigen  Problems  ge- 
langt.1 

Dieses  Beispiel  einer  wieder  gefallenen  Mauer  ist  prinzipiell  das 
wichtigste :  das  erste  kam  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  im  allgemeinen 
vor  (III  Teilung),  das  zweite  -  auf  dem  Gebiete  des  Geistigen  im 
allgemeinen  (II  Teilung),  dieses  dritte  -  vollzieht  sich  zwischen  zwei 
Gebieten,  die  vorher  keine  entfernteste  Verwandtschaft  kannten  - 

1  Im  Laufe  dieses  letzten  Sommers  wurde  im  Bauhaus  ein  neuer 
Studienplan  ausgearbeitet,  nach  dem  ein  erweiterter  Unterricht 
ermöglicht  wird:  Kunst,  Technik  und  Wissenschaft  bilden  die 
Grundsteine  -  ausgeglichen  und  ineinander  organisch  greifend. 
Der  Studierende  soll  außer  der  fachmännischen  eine  möglichst  er- 
weiterte synthetische  Bildung  erhalten.  Er  soll  im  Ideal  nicht  nur 
als  neuer  Spezialist,  sondern  auch  als  neuer  Mensch  ausgerüstet 
werden. 


96 


das  Gebiet  der  Materie  und  das  des  Geistes  (I  Teilung).  Das  Beseitigen 
der  Absonderung  entwickelt  sich  logisch  und  die  Verbindung  («und») 
breitet  sich  auf  die  entferntesten  Gebiete  aus.1 

Der  enge  Rahmen  des  kleinen  Aufsat2es  soll  mir  zur  Entschuldigung 
dienen,  wenn  ich  das  überaus  wichtige  Thema  der  synthetischen 
Kunst  so  eng  und  zerrissen  behandelt  habe. 

Mein  Zweck  war  nur,  die  Masse  dieses  entscheidenden  Problems  an- 
zudeuten, auf  die  allmenschliche  Bedeutung  der  letzten  Verschiebung 
vom  alten  Boden  zu  einem  neuen  zu  deuten,  was  weit  über  die  Gren- 
zen der  Kunst  geht  und  früher  oder  später  auf  jedem  wichtigen 
Gebiete  der  menschlichen  Entwicklung  geschehen  wird. 
Der  Laie  ist  längst  gewöhnt,  die  Kunst-  und  Wissenschaftsfragen  als 
ihm  etwas  Fremdes  anzusehen,  das  außerhalb  seines  realen  Lebens 
steht  und  worum  er  sich  nicht  zu  kümmern  braucht. 
Immer  mehr  verbreitet  sich  im  «großen  Publikum»  die  vielleicht  nicht 
ganz  bewußte  Ansicht,  daß  die  Marktpreise  und  die  Angelegenheiten 
der  politischen  Parteien  den  seelischen  Boden  des  menschlichen 
Lebens  bilden  und  daß  alles  außerhalb  dieser  Interessen  Stehende 
keinen  wesentlichen  Wert  haben  kann. 

Diese  Einstellung  ist  das  organisch-natürliche  Produkt  der  extremen 
Spezialisierung  und  des  allerdings  verflachten  Materialismus.  Hier  ist 
kein  Anfang,  sondern  nur  ein  Abschluß  der  Vergangenheit  zu  sehen. 
Der  Anfang  besteht  in  der  Erkenntnis  der  Zusammenhänge.  Immer 
mehr  wird  man  sehen  können,  daß  es  keine  «speziellen»  Fragen  gibt, 

1  In  der  IV  Teilung  sind  die  Mauern  dank  der  abstrakten  Kunst 
gefallen  -  keine  Unterteilung,  sondern  Malerei  als  solche. 


97 


die  isoliert  erkannt  oder  gelöst  werden  können,  da  alles  schließlich 
ineinander  greift  und  voneinander  abhängig  ist.  Die  Fortsetzung  des 
Anfangs  ist:  weitere  Zusammenhänge  zu  entdecken  und  sie  für  die 
wichtigste  Aufgabe  des  Menschen  auszunützen  -  für  die  Entwicklung. 
Die  Wurzeln  der  Einzelerscheinungen  treffen  sich  in  der  Tiefe  und 
der  zukünftige  Mensch  wird  vielleicht  bald  alle  diese  Wurzeln  zu 
einer  allgemeinen  Wurzel  zurückführen  können. 

Die  Kunst  kann  in  keiner  geistig  wertvollen  Epoche  außerhalb  des 
Lebens  stehen.  Sie  kann  sich  in  der  Zeit  der  Vorbereitungen  vom 
«Leben»  zurückziehen  -  sie  konzentriert  sich  in  eigenen  Aufgaben, 
damit  sie  wieder  ihre  wichtige  Stelle  in  einer  anfangenden  geistigen 
Epoche  genügend  ausgerüstet  einnehmen  kann. 

Heute  erlebt  sie  die  letzten  Konsequenzen  der  äußeren  «Material- 
periode», und  geht  auf  Grund  der  in  diesem  Sinne  geleisteten  Arbeit 
zum  Inhalt  der  beginnenden  Epoche  über.  Wahrscheinlich  wird 
wieder  die  Kunst  als  erste  das  «entweder-oder»  des  19.  Jahrhunderts 
verlassen  und  zum  «und»  des  kaum  begonnenen  20.  Jahrhunderts 
übergehen. 

Dieses  «und»  in  der  Kunst  ist  in  unserem  Falle  das  Äußere  und  das 
Innere  im  Material,  in  den  Elementen,  im  Werk  undsoweiter. 
Wenn  die  Zeit  des  Inneren  im  Äußeren  reif  ist,  entsteht  die  Möglich- 
keit vom  reinen  Theoretisieren  zur  Praxis  überzuschreiten  -  in  unserem 
Falle  zum  synthetischen  Werk. 


98 


Analyse  der  primären  Elemente  der  Malerei 


«Analyse  der  primären  Elemente  der  Malerei»  erschien  1928  in  den 
Cabiers  de  Belgique.  Dieser  Text  ist  auf  Grund  und  unter  Verwen- 
dung von  Zeichnungen  aus  Punkt  und  Linie  %u  Fläche  entstanden, 
als  konzentrierte  Darstellung  der  Kunsttheorie,  die  Kandinsky  im 
Begriff  war  auszubauen. 


Es  ist  mir  nicht  möglich,  in  einem  kurzen  Essay  einen  so  vielseitigen 
Gegenstand  gründlich  zu  behandeln.  Die  Gedanken,  die  ich  hier  zu- 
sammenfasse, werden  deshalb  unvermeidlich  schematischen  Cha- 
rakter haben.  Diese  Schematik  ist  nichts  anderes  als  eine  Basis, 
welche  die  mannigfaltigen  ideologischen  Entwicklungen  notwendiger- 
weise ausschließt. 

Man  unterscheidet  heute  -  in  einer  Epoche  von  «chaotischem»  Zu- 
stand -  verschiedene  Erscheinungen  der  Ordnung,  in  unterschied- 
lichen Gebieten :  in  der  Kunst  im  allgemeinen  und  in  der  Malerei  im 
besonderen. 

Diese  Ordnung  manifestiert  sich  speziell  in  der  Malerei  durch  die 
wiederaufgenommenen  Versuche,  eine  neue,  erstmalige  Theorie  der 
Malerei  aufzustellen,  ausgehend  von  Prinzipien  und  hinführend  zu 
einer  «Abhandlung  über  die  Komposition». 

Es  ist  wahr,  daß  vielen  die  Neigung  zur  Theorie  sehr  zweifelhaft, 
wenn  nicht  gefährlich  und  gar  unselig  erscheint.  Nicht  nur  die  Histo- 
riker, die  Künstler  selber  weichen  zurück  vor  der  Reflexion,  vor  der 
«Gehirntätigkeit»,  denn  sie  befürchten,  daß  dadurch  die  reine  «Er- 
findung» in  eine  Gefahr  gebracht  werde,  deren  natürliche  Folgerung 
das  Ende  jeder  Kunst  sein  müßte. 


99 


Auf  der  andern  Seite  gibt  es  gewisse  Künstler,  die  so  sehr  von  der 
Notwendigkeit  eines  theoretischen  Vorgehens  überzeugt  sind,  daß 
sie  zur  Ablehnung  der  intuitiven  Phase  kommen. 
Dies  bedeutet,  daß  der  anomale  Zustand  des  modernen  Denkens  das 
Gleichgewicht  zwischen  den  beiden  Phasen  Intuition  und  Reflexion 
gestört  hat. 

Man  kann  mit  aller  Gewißheit  annehmen,  daß  die  großen  künstleri- 
schen Epochen  ihre  voll  entwickelten  Kunsttheorien  hatten,  von 
denen  man  heute  noch  einige  winzige  Reste  entdeckt.  Die  «akademi- 
sche» Epoche,  die  dem  Impressionismus  voranging,  besaß  sicherlich 
noch  die  seltenen  Fragmente  einer  von  der  Vergangenheit  vererbten 
«Kompositionslehre»,  aber  sie  machte  von  ihnen  keinen  andern 
Gebrauch  als  den  einer  mechanischen  Anwendung,  die  nicht  mehr 
zu  plastischen,  wirklich  lebendigen  Organismen  führen  konnte. 
Es  geschah  mehr  oder  weniger  unbewußt,  daß  der  erste  Stein  zu 
einer  -  heute  noch  jungen  -  Theorie  gelegt  wurde,  nämlich  durch 
die  Impressionisten.  Ihr  Prinzip  wurde  entwickelt  durch  die  Neo- 
Impressionisten (Signac  hat  das  erste  theoretische  Werk  veröffentlicht 
auf  diesem  Gebiet),  und  die  Entfaltung  setzte  sich  im  Expressionis- 
mus, im  Kubismus  und  in  den  andern  Ismen  fort. 
Die  abstrakte  Malerei  war  dazu  berufen,  diesen  ersten  Theorien  eine 
klare  Begründung  und  eine  Methode  der  Schöpfung  und  der  Ver- 
wirklichung zu  geben,  die  sich  durch  besondere  Deutlichkeit  aus- 
zeichnet. 

Zu  dieser  unerläßlichen  Klarheit,  in  ihrer  Begründung  und  in  ihrer 
Methode,  kam  die  Theorie  der  abstrakten  Malerei  durch  die  Betrach- 


100 


tung  des  objektiven  Charakters  der  malerischen  Vorgänge.   Schon 
heute  darf  man  mit  Recht  annehmen,  daß  die  Theorie  der  Malerei 
einen  wissenschaftlichen  Weg  eingeschlagen  hat,  um,  ganz  zweifellos, 
schließlich  zu  einer  präzisen  Lehre  zu  gelangen. 
Die  Aufgaben  der  Theorie  werden  sein  : 

1.  die  Aufstellung  eines  methodischen  Vokabulars  aller  gegenwärtig 
zerstreuten  und  ihres  Sinnes  verlustig  gegangenen  Worte, 

2.  die  Gründung  einer  Grammatik,  welche  Regeln  der  Konstruktion 
enthält. 

So  wie  die  Worte  der  Sprache,  werden  die  plastischen  Elemente 
wieder  erkannt  und  bestimmt  werden. 

Wie  in  der  Grammatik  werden  Gesetze  der  Konstruktion  aufgestellt 
werden,  wobei  in  der  Malerei  die  Kompositionslehre  dieser  Gramma- 
tik entspricht. 


« 


1.  Wiederholung  einer  geraden  Linie  mit  Gewichtsänderung. 

2.  Wiederholung  eines  Winkels. 

3.  Gegensätzliche  Wiederholung  eines  Winkels  erzeugt  Fläche. 

4.  Wiederholung  einer  Gebogenen. 


101 


Die  abstrakte  Malerei  versucht  also  diese  Elemente  zu  gruppieren, 
und  zwar  vielleicht  auf  folgende  Weise : 

1.  durch  genaue  Bestimmung  der  primären  Elemente  und  Benennung 
derjenigen,  die  sich  von  ihnen  ableiten  und  bereits  differenzierter  und 
komplizierter  sind  (der  analytische  Teil). 

2.  durch  Feststellung  der  möglichen  Gesetze  der  Anordnung  dieser 
Elemente  in  einem  Werk  (der  synthetische  Teil). 


8  9 

5.  Wiederholung  von  entgegengesetzten  Kurven,  neue  Flächen- 
schöpfung. 

6.  Zentralrhythmische  Wiederholung  einer  Geraden. 
1.  Zentralrhythmische  Wiederholung  einer  Kurve. 

8.  Wiederholung  einer  Kurve,  die  durch  eine  Begleitkurve  zerteilt 
wird. 

9.  Gegensätzliche  Wiederholung  einer  Kurve. 


102 


Das  primäre  Element  der  gezeichneten  Form  ist  der  Punkt,  der  un- 
teilbar ist.  Alle  Linien  entstammen  organisch  diesem  Punkt: 

A.  Linien: 
I.  Gerade: 

a)  horizontale 

b)  vertikale 

c)  diagonale 

d)  gerade 

IL  Winklige  oder  Quadratlinien: 

a)  geometrische 

b)  freie  -  in  horizontaler,  vertikaler  und  anderen  Richtungen 
III.  Kurven: 

a)  geometrische 

b)  freie  -  in  den  gleichen  Arten  wie  unter  IL 

B.  Flächen: 

1.  Dreieck 

2.  Viereck 

3.  Kreis 

4.  Formen,  die  freier  als  diese  drei  fundamentalen  Formen  sind 

5.  Freie  Flächen,  die  nicht  der  Geometrie  entstammen. 

Ich  bestehe  auf  dem  sehr  bedingten  Charakter  des  Ausdrucks  «Zeich- 
nung», den  ich  wegen  folgender  Formen  gewählt  habe:  die  zeichne- 
rische Form  ist,  in  ihrer  letzten  Analyse,  plastisch,  nämlich  in  An- 
betracht dessen,  daß  «Kontur»  und  «Farbe»  in  der  Malerei  gleich- 
wertige Elemente  sind.  Theoretisch  müssen  jedoch  die  beiden  Arten 
unterschieden  werden. 


103 


J 


n 


7\ 


r 


Spannungen  aus  dem  Zentrum 


Die  Elemente  der  Zeichnung  und  die  plastischen  Elemente  stehen 
untereinander  in  einer  ständigen  organischen  Beziehung. 
Man  erkennt  diese  Beziehung  an  den  Spannungen,  die  nichts  anderes 
sind  als  die  inneren  Kräfte  der  Elemente. 

Diese  inneren  Kräfte,  die  ich  Spannungen  nenne,  sind  ausschließlich 
aktive  Kräfte,  und  zwar  in  der  Theorie  so  gut  wie  in  der  Praxis. 
In  einem  so  weit  wie  möglich  isolierten  Element  muß  die  Spannung 
als  absolut  betrachtet  werden. 

In  Verbindungen  von  zwei  oder  mehr  Elementen  bestehen  die  ab- 
soluten Spannungen  fort,  aber  sie  erhalten  einen  relativen  Wert. 
Diese  relativen  Werte  gehören  zu  den  einzigen  Ausdrucksmitteln  der 
Komposition,  das  heißt  sie  dienen  dem  Gegenstand  als  alleiniges 
Mittel  und  durch  sie  drückt  er  sich  aus. 


104 


Verteilung  von  Gewichten 


Ich  kann  hier  nur  einige  Beispiele  geben  von  der  organischen  Be- 
ziehung zwischen  der  gemalten  Form  und  der  gezeichneten  Form, 
ohne  sie  näher  zu  begründen.1 
Winkel        Z_  L  V_ 

Fläche  A  D  O 

Farbe         gelb         rot         blau 

Ich  mache  ausdrücklich  darauf  aufmerksam,  daß  diese  Beziehungen,  die 
im  Prinzip  unveränderlich  sind,nur  theoretisch  betrachtet  werden  dürfen. 
In  der  Praxis  können  die  plastischen  Formen  und  die  gezeichneten 
Formen  anders  und  nach  allen  möglichen  Weisen  kombiniert  werden, 
was  zu  wichtigen  Folgerungen  führt. 


1  Der  Leser  findet  näher  begründete  Entwicklungen  in  meinem 
Buch  Punkt  und  Linie  %it  Fläche. 


105 


Theoretisch  gesehen,  ist  das  Dreieck  immer  gelb.  In  der  Praxis 
jedoch  ergibt  diese  Verbindung : 

1  (absoluter  Wert  des  Dreiecks)  +  1  (absoluter  Wert  von  gelb)  =  2. 
Ein  blaues  Dreieck  wird  ergeben : 

1  (Dreieck)  +  1  (gelb)  +  1  (zusätzlicher  Wert  des  «Harmonischen») 
=  3. 

Die  erste  Kombination  ist  sozusagen  von  «Lyrismus»,  die  zweite  von 
«Dramatik»  gefärbt.  Beide  sind  in  der  Praxis  möglich,  aber  da  sie  in 
den  Resultaten  verschieden  sind,  müssen  sie  mit  genauem  Wissen 
um  die  Natur  des  Inhalts  verwendet  werden. 

Der  Inhalt  ist  nichts  anderes  als  die  Summe  der  organisierten  Span- 
nungen. Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  entdeckt  man  die  ursprüng- 
liche Identität  der  Gesetze  der  Komposition  in  allen  Künsten  -  unter 
der  Annahme,  daß  die  Künste  ihren  Gegenstand  nicht  anders  materiell 
darstellen  können  als  durch  organisierte  Reaktionen. 
Hier  findet  man  nun  auch  die  Lösung  eines  zukünftigen  «synthe- 
tischen» Werkes  und  hier  wird  deutlich  erkennbar,  wieso  dieses  ver- 
loren ging. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  entdeckt  man  ferner  die  innige  Be- 
ziehung zwischen  Kunst  und  Natur:  so  wie  die  Kunst,  «arbeitet» 
auch  die  Natur  mit  ihren  eigenen  Mitteln  (das  primäre  Element  in 
der  Natur  ist  ebenfalls  der  Punkt),  und  heute  schon  kann  man  mit 
Sicherheit  annehmen,  daß  die  Wurzel  der  Gesetze  der  Komposition 
die  gleiche  ist  sowohl  in  der  Kunst  wie  in  der  Natur. 
Die  Beziehung  zwischen  Kunst  und  Natur  (oder  dem  «Gegenstand», 
wie  man  heute  sagt)  besteht  nicht  darin,  daß  die  Malerei  niemals 


106 


dazu  kommen  wird,  die  Darstellung  der  Natur  oder  des  Gegen- 
standes zu  vermeiden,  sondern  sie  besteht  darin,  daß  die  beiden 
«Domänen»  ihre  Werke  in  einer  ähnlichen  oder  gleichen  Art  und  Weise 
verwirklichen,  und  sie  müssen  -  unmittelbar  wie  sie  erblüht  sind 
und  unabhängig  wie  sie  leben  -  so  genommen  werden,  wie  sie  sind. 


107 


Modeste  Mussorgsky:  Bilder  einer  Ausstellung 

Am  4.  April  1928  wurde  Modeste  Mussorgsky:  Bilder  einer  Aus- 
stellung im  Friedrich-Theater  in  Dessau  aufgeführt.  Kandinsky 
hatte  die  Aufgabe  der  Inszenierung  und  die  Gestaltung  der  Bühnen- 
bilder übernommen.  Leider  war  dies  das  einzige  Mal,  daß  er  seine 
Idee  der  «Bühnensynthese»  verwirklichen  konnte,  über  das  Pro- 
blem und  seine  Absichten  schreibt  er  in  einem  Aufsatz,  der  im 
Kunstblatt  vom  August  1930  erschien. 

Während  der  letzten  Monate  seines  Lebens  dachte  Kandinsky 
noch  daran,  ein  Ballett  zu  entwerfen,  er  kam  aber  nicht  mehr  dazu, 
eine  seiner  Lieblingsideen,  eine  wirkliche  «Bühnensynthese»  in 
großem  Ausmaß,  zu  verwirklichen. 

Das  Werk  besteht  aus  16  Bildern,  welche  die  Eindrücke  wieder- 
geben, die  Mussorgsky  in  einer  Bilderausstellung  gewonnen  hatte. 
Die  gemalten  Bilder  waren  natürlich  «naturalistisch»  (vermutlich 
ausschließlich  Aquarelle). 

Die  Musik  ist  aber  keineswegs  «Programmusik»  geworden.  Wenn 
sie  etwas  «wiederspiegelt»,  so  sind  es  nicht  die  gemalten  Bildchen, 
sondern  die  Erlebnisse  Mussorgskys,  die  weit  über  den  «Inhalt»  des 
Gemalten  stiegen  und  eine  rein  musikalische  Form  fanden.  Dies  war 
der  Grund,  warum  ich  das  Angebot  des  damaligen  Intendanten  des 
Friedrich-Theaters  in  Dessau,  Dr.  Hartmann,  das  Musikwerk  zu 
inszenieren,  gern  annahm. 

Mit  Ausnahme  von  zwei  Bildern  -  «Samuel  Goldenberg  und 
Schmuyle»  und  «Der  Marktplatz  in  Limoges»  -  (in  welchen  ich  zwei 
Tänzer  mitwirken  ließ)  ist  das  ganze  Bühnenbild  «abstrakt»  gewesen. 
Hier  und  da  verwendete  ich  auch  Formen,  die  fern  «gegenständlich» 
waren.  Ich  ging  also  auch  nicht  «programmäßig»  vor,  sondern  ver- 
wendete Formen,  die  mir  beim  Hören  der  Musik  vorschwebten. 


109 


Bild  2 :  Gnomus 


Bild  4:  Das  alte  Schloß 


110 


Die  Hauptmittel  waren: 

1.  Die  Formen  selbst, 

2.  die  Farbe  auf  den  Formen,  wozu 

3.  die  Beleuchtungsfarbe  als  vertiefte  Malerei  sich  gesellte, 

4.  das  selbständige  Spiel  des  farbigen  Lichts  und 

5.  der  mit  der  Musik  verbundene  Aufbau  jedes  Bildes  und  nötigen- 
falls der  Abbau  desselben. 

Ein  Beispiel:  Bild  4  -  «Das  alte  Schloß».  Die  Bühne  ist  offen,  aber 
ganz  dunkel  (der  in  der  Tiefe  angebrachte  schwarze  Plüschvorhang 
bildet  eine  «unmaterielle»  Tiefe).  Bei  dem  ersten  Espressivo  werden 
nur  drei  lange  vertikale  Streifen  in  der  Tiefe  sichtbar.  Sie  verschwin- 
den. Bei  weiterem  Espressivo  kommt  von  rechts  der  große  rote 
Prospekt  hinein  (doppelte  Farbe). 

Danach  ebenso  von  links  der  grüne  Prospekt.  Aus  der  Versenkung 
erscheint  die  mittlere  Figur.  Sie  wird  intensiv  farbig  durchleuchtet. 
Bei  Poco  largamente  nimmt  das  Licht  immer  mehr  ab,  bis  bei  p 
Dunkelheit  eintritt.  Bei  letztem  Espressivo  werden  -  wie  am  An- 
fang -  die  drei  Streifen  sichtbar.  Bei  letztem  f  plötzlich  dunkel. 


111 


Kunstpädagogik 


«Kunstpädagogik»  erschien  in  der  Zeitschrift  baubaus  No  2/3  1928 
und  kann  als  die  Antwort  Kandinskys  angeschen  werden  auf  die 
am  Bauhaus  sich  stärker  zu  Wort  meldende  Diskussionsfrage 
«Warum  denn  Kunst  ?»  und  «Warum  Kunsterziehung  am  Daubaus}» 
und  schließlich  «Warum  eine  Kunst-Theorie?» 
Im  darauffolgenden  Text  «Die  kahle  Wand»  (Seite  119)  gibt  Kan- 
dinsky  noch  eine  weitere  Antwort  zum  gleichen  Problem. 


Vor  kurzem  wurde  allgemein  und  heute  wird  noch  größtenteils  der 
«Kunstunterricht»  als  ein  Sondergebiet  betrachtet,  das  mit  den 
Fragen  der  «allgemeinen»  Bildung  fast  keine  Berührungspunkte  hat. 
Anderseits  ist  der  Begriff  der  «allgemeinen»  Bildung  ein  durchaus 
verworrener.  Man  ist  berechtigt  zu  behaupten,  daß  es  zu  unserer  Zeit 
keine  allgemeine  Bildung  ohne  «  »  gibt. 

Es  gibt  dagegen  unendlich  viele  «Fachausbildungen»,  die  weder  mit  der 
allgemeinen  Bildung,  noch  untereinander  irgendwie  verbunden  sind. 
So  bezweckt  auch  der  heutige  Kunstunterricht  eine  Fachausbildung, 
die  in  sich  begrenzt  bleibt  -  wie  die  Fachausbildung  eines  Mediziners, 
Juristen,  Ingenieurs,  Mathematikers. 

Dieser  allgemeinen  Sachlage  ist  die  Anschauung  entgegengesetzt, 
daß  ein  Kunstunterricht  überhaupt  als  solcher  nicht  existieren  könne, 
weil  man  Kunst  weder  lehren,  noch  lernen  könne:  die  Kunst  wäre 
eine  Angelegenheit  der  reinen  Intuition,  die  naturgemäß  gewaltsam 
oder  unterrichtlich  nicht  zu  erzeugen  ist. 

Das  einflußreiche  Erbe  des  19.  Jahrhunderts  -  die  extreme  Speziali- 
sierung und  das  darauf  folgende  Zersetzen  -  belastet  die  sämtlichen 
Gebiete  unseres  heutigen  Lebens  und  zwingt  auch  die  Fragen  des 


113 


Kunstunterrichts  immer  tiefer  in  eine  Sackgasse.  Es  ist  erstaunlich, 
wie  wenig  Konsequenzen  aus  den  Ereignissen  der  letzten  Jahrzehnte 
gezogen  wurden  und  wie  selten  der  Verstand  für  den  inneren  Sinn 
der  großen  «Verschiebung»  zu  bemerken  ist. 

Dieser  innere  Sinn,  oder  die  innere  Spannung  der  weiteren  «Ent- 
wicklung» sollte  zur  Grundlage  jedes  Unterrichts  gelegt  werden; 
die  Zerstückelung  wird  allmählich  durch  Verbindung  ersetzt.  Das 
«entweder-  oder»  muß  den  Platz  dem  «und»  räumen.  Eine  Fachausbildung 
ohne  allgemein-menschliche  Grundlage  sollte  nicht  mehr  möglich  sein. 
Es  fehlt  heute  in  jedem  Unterricht  -  fast  ohne  Ausnahme  -  eine 
«Weltanschauung»  inneren  Charakters  oder  die  «philosophische» 
Grundlage  des  Sinnes  der  menschlichen  Tätigkeit.  Merkwürdiger- 
weise werden  noch  heute  junge  Leute  auf  die  veraltete  und  innerlich 
tötende  Weise  zu  Fachmenschen  erzogen,  die  im  äußeren  Leben  sehr 
brauchbar  sein  können,  aber  nur  ganz  selten  auch  einen  rein  mensch- 
lichen Wert  darstellen. 

Der  Unterricht  besteht  in  der  Regel  in  einem  mehr  oder  weniger  ge- 
waltsamen Aufhäufen  von  Einzelkenntnissen,  welche  die  Jugend 
sich  aneignen  soll  und  mit  welchen  sie  außerhalb  ihres  «Faches» 
nichts  anfangen  kann.  Selbstverständlich  bleibt  dabei  die  Fähigkeit 
der  Verbindung,  mit  anderen  Worten  die  Fähigkeit  des  synthetischen 
Beobachtens  und  Denkens  so  wenig  berücksichtigt,  daß  sie  größten- 
teils verkümmert. 

Der  Hauptzweck  jedes  Unterrichts  sollte  die  Entwicklung  des  Denk- 
vermögens in  zwei  gleichzeitig  vor  sich  gehenden  Richtungen  sein: 
1 .  der  analytischen  und    2.  der  synthetischen. 


114 


Wir  sollen  also  das  Erbe  des  letzten  Jahrhunderts  weiter  ausnützen 
(Analyse  =  Zersetzung)  und  gleichzeitig  durch  die  synthetische 
Einstellung  so  ergänzen  und  vertiefen,  daß  die  Jugend  die  Fähigkeit 
bekommt,  bei  scheinbar  weit  voneinander  liegenden  Gebieten  eine 
lebendige,  organische  Verbindung  zu  empfinden  und  zu  begründen 
(Synthese  =  Verbindung). 

Dann  würde  die  Jugend  die  starr  gewordene  Atmosphäre  des 
«entweder -oder»  verlassen  und  sich  in  die  biegsame,  lebendige 
Atmosphäre  des  «und»  begeben  -  Analyse  als  Mittel  zur  Synthese. 
Daraus  ist  die  Folgerung  leicht  zu  ziehen,  daß 

1.  die  Hauptbasis  jeder  Erziehung  oder  jedes  Unterrichts  immer 
dieselbe  bleibt, 

2.  also  der  Kunstunterricht  kein  von  jedem  anderen  Unterricht  ab- 
gesondertes Gebiet  ist  und 

3.  in  erster  Linie  nicht  das  wichtig  ist,  was  unterrichtet  wird,  sondern 
wie. 

Der  Punkt  3  soll  nicht  paradox  wirken. 

Der  in  der  Zeit  der  Zersetzung  entstandene  Aberglaube,  es  gäbe 
verschiedene  Arten  des  Denkens  und  also  auch  der  schöpferischen 
Arbeitest  vom  Standpunkt  des  «und»  definitiv  abzulehnen:  die  Den- 
kensart und  der  Prozeß  der  schöpferischen  Arbeit  unterscheiden  sich 
auf  verschiedensten  Gebieten  der  menschlichen  Tätigkeit  nicht  im 
geringsten  voneinander  -  sei  es  die  Kunst,  Wissenschaft,  Technik. 
Das  maßgebende  ist  dabei,  ob  die  Art  des  Beibringens  von  Fachkennt- 
nissen (Unterricht)  sich  mit  dem  Aufhäufen  von  diesen  Kenntnissen 
zufriedenstellt,    oder  in  erster   Linie   die   Fähigkeit   des   analytisch- 


115 


synthetischen  Denkvermögens  zu  entwickeln  und  zu  kultivieren 
sucht.  Es  ist  für  einen  Künstler  fruchtbarer,  Fachkenntnisse  aus 
einem  fremden  Gebiet  zu  sammeln  mit  der  Bedingung  des  erwähnten 
Denkvermögens,  als  eng  in  seinem  Fach  «ausgebildet»  zu  werden 
und  im  erwähnten  Denken  wie  vorher  unfähig  zu  bleiben. 
Es  braucht  nicht  weiter  bewiesen  zu  werden,  daß  der  ideale  Unterricht 
in  jedem  «Fach»  aus  2  Teilen  bestehen  sollte,  die  unzertrennlich  mit- 
einander verbunden  werden  müßten : 

1.  die  Erziehung  zum  analytisch-synthetischen  Beobachten,  Denken 
und  Handeln  und 

2.  systematische    Mitteilung    und    Aneignung    von  entsprechenden 
Fachkenntnissen. 

Dies  bezieht  sich  also  selbstverständlich  auch  auf  den  Kunstunterricht. 
Die  Kunst  ist  tatsächlich  nicht  zu  erlernen  -  ganz  genau  wie  die 
schöpferische  Arbeit  und  Erfindungskraft  in  der  Wissenschaft  oder 
in  der  Technik  nicht  gelehrt  oder  gelernt  werden  kann. 
Die  großen  Kunstepochen  hatten  aber  immer  ihre  «Lehre»  oder 
«Theorie»,  die  ebenso  selbstverständlich  in  ihrer  Notwendigkeit  war, 
wie  es  in  der  Wissenschaft  der  Fall  war  und  ist.  Diese  «Lehren» 
konnten  nie  das  Element  des  Intuitiven  ersetzen,  weil  das  Wissen  an 
und  für  sich  unfruchtbar  ist.  Es  muß  sich  mit  der  Aufgabe  begnügen, 
das  Material  und  die  Methode  zu  liefern.  Fruchtbar  ist  die  Intuition, 
die  dieses  Material  und  diese  Methode  als  Mittel  zum  Zweck  braucht. 
Der  Zweck  kann  aber  ohne  Mittel  nicht  erreicht  werden,  und  in 
diesem  Sinne  wäre  auch  die  Intuition  unfruchtbar. 
Kein  «entweder  -  oder»,  sondern  «und». 


116 


Der  Künstler  arbeitet  wie  jeder  andere  Mensch  auf  Grund  seiner 
Kenntnisse  mit  Hilfe  seines  Denkvermögens  und  des  intuitiven 
Moments. 

Auch  in  diesem  Falle  ist  der  Künstler  von  jedem  anderen  schöpferi- 
schen Menschen  nicht  zu  unterscheiden. 
Seine  Arbeit  ist  gesetz-  und  zweckmäßig. 


117 


mm 


Die  kahle  Wand 

«Die  kahle  Wand»  ist  am  1.  April  1929  im  Kunstnarr,  herausgegeben 
von  Ernst  Källai,  erschienen.  In  diesem  Aufsatz  wird  von  Kan- 
dlnsky  eine  Tendenz,  die  am  Bauhaus  wie  eine  schleichende 
Krankheit  begann,  dargestellt  und  begrüßt,  nämlich  das,  was  wir 
heute  als  die  «Mal-Krankheit»  bezeichnen  möchten.  Diese  Krank- 
heit entstand  dadurch,  daß  man  zeitweise  die  «Kunst»  allgemein  aus 
dem  Bauhaus  verbannen  wollte,  anstatt  sie  wirklich  zu  integrieren. 
So  wurde  sie  in  die  Malerei  -  vor  allem  in  die  heimliche  -  ver- 
drängt. An  der  «Mal-Krankheit»  kann  selbst  eine  gesunde  Institu- 
tion demoralisieren.  Malerei  -  und  das  hat  Kandinsky  damals  leider 
noch  nicht  in  der  heutigen  Bedeutung  erkennen  können  -,  ist  w  irkl  ich 
nur  geistig  gesicherten  Naturen  zuträglich.  Für  die  andern  ist  sie 
«der  bequeme  Ausweg»  aus  den  Tagesproblemen  -  eine  Flucht  aus 
der  Synthese  von  Kunst  und  Leben,  wie  wir  sie  heute  auffassen. 

Die  kahle  Wand!.... 

Die  Idealwand,  an  der  nichts  steht,  an  die  nichts  angelehnt  ist,  an  der 

kein  Bild  hängt,  an  der  nichts  zu  sehen  ist. 

Die  egozentrische,  die  «an  und  für  sich»  lebende,  die  sich  behauptende, 

die  keusche  Wand. 

Die  romantische  Wand. 

Auch  ich  liebe  die  kahle  Wand,  weil  sie  einer  der  Klänge  der  neuen 

kommenden  Romantik  ist. 

Der  Verkünder  der  kahlen  Wand,  die  Gegner  der  Romantik  sind 

heute  sehr  gute  Freunde  der  Kunst  und  speziell  der  Malerei. 

Sogar  ganz  besonders  der  Malerei,  weil  sie  unter  allen  Künsten  nur 

die  Malerei  bekämpfen. 

Wer  die  kahle  Wand  erleben  kann,  ist  am  besten  zum  Erleben  eines 

malerischen  Werkes  vorbereitet : 

die    zweidimensionale,    tadellos    glatte,    vertikale,    proportionierte, 


119 


«schweigende»,  erhabene,  sich  behauptende,  in  sich  gekehrte,  von 
außen  begrenzte  und  nach  außen  ausstrahlende  Wand  ist  ein  fast 
primäres  «Element». 

Und  das  primäre  Element  ist  das  «A»  des  Kunstverstandes,  nach  dem 
das  «B»  unvermeidlich  kommen  muß :  es  muß,  da  es  kann. 
Die  Biermusik  ist  laut  und  donnernd  wie  eine  bürgerliche  Durch- 
schnittswohnung. Der  heutige  Mensch  ist  betäubt  -  er  kann  nur 
Lautes  empfinden.  Wenn  er  nicht  am  Kragen  gepackt  und  nicht  or- 
dentlich geschüttelt  wird,  bleibt  er  unberührt. 

Aber  das  Laute  ist  nur  ein  Teil  des  Ganzen  -  wer  weiß,  ob  das  Leise 
(und  Schweigsame)  nicht  ein  noch  wichtigerer  Teil  des  Ganzen  ist  ? 
Wir  Maler  sind  unseren  «Feinden»  zu  Dank  verpflichtet,  weil  sie 
unsere  Freunde  sind. 

Je  nach  «Richtung»  und  Gesinnung  wird  verschiedenes  vom  heutigen 
Maler  verlangt.  Besonders  vom  «abstrakten». 
Manche  verlangen  von  uns,  daß  wir  nur  Wände  anstreichen. 
Und  nur  innen. 

Manche  wünschen,  daß  wir  die  Häuser  von  außen  anstreichen. 
Und  nur  von  außen. 

Manche  verlangen  von  uns,  daß  wir  die  Industrie  bedienen,  daß  wir 
Muster  für   Stoffe,   Krawatten,    Socken,   Geschirr,  Sonnenschirme, 
Aschenbecher,  Teppichläufer  liefern. 
Nur  Kunstgewerbe. 

Wir  sollen  nur  das  Bildermalen  für  alle  Zeiten  lassen.  Manche  sind 
wieder  gütiger  und  gestatten  uns,  Bilder  direkt  auf  Wände  zu  malen, 
wenn  wir  auf  die  Staffeleimalerei  verzichten. 


120 


Je  nach  «Richtung»  und  Gesinnung  wird  dem  heutigen  Maler  ver- 
boten : 

das  Staffeleibildmalen, 
das  Wandmalen, 

das  Bemustern  der  Stoffe  und  aller  anderen  Gegenstände, 
das  Wandanstreichen  von  außen, 
das  Wandanstreichen  von  innen, 
das  Malen  überhaupt. 

Es  gibt  heute  Menschen,  welche  die  Malerei  lieben.  Sie  rinden  manch- 
mal, daß  heute  keine  «richtige»  Malerei  getrieben  wird. 
Das  Verlassen  der  alten  sicheren  Tradition  durch  die  Maler  wird  nach 
Meinung   dieser   kunstliebenden   Menschen   durch   Unfruchtbarkeit 
gestraft. 

Wie  oft  wird  mündlich  und  schriftlich  getrauert:  es  gäbe  keinen 
«Nachwuchs».  «Immer  dieselben  langsam  alternden  Maler  -  und  wo 
ist  die  Jugend,  welche  die  ,heilige  Fahne'  der  Kunst  übernehmen 
sollte  und  könnte  ?» 

«Die  Malerei  entartet  und  geht  zugrunde.»  Die  einen  trauern,  die 
andern  freuen  sich.  Die  einen  trauern,  die  andern  freuen  sich,  daß 
im  Bauhaus  gemalt  wird,  daß  es  nicht  nur  die  «Meister»  tun,  son- 
dern daß  es  auch  die  Jugend  tut,  daß  es  im  Bauhaus  seit  bald  zwei 
Jahren  einen  regelrechten  Unterricht  gibt  -  außer  der  praktischen 
«Werkstatt  für  Wandmalerei»  wird  jetzt  die  Malerei  auch  in  den  un- 
praktischen «freien  Malklassen»  kultiviert. 

Man  begegnet  aber  in  demselben  Bauhaus  Studierenden,  die  weder 
in  der  praktischen  Abteilung,  noch  in  den  unpraktischen  Malklassen 


121 


zu  finden  sind  und  die  sich  trotzdem  «freimalerisch»  betätigen:  es 
malen  zum  Beispiel  Tischler,  Metallisten,  Weberinnen,  sogar  Archi- 
tekten. 

Sogar  Architekten. 

Ist  es  ein  Wunder,  daß  alle  diese  jungen  Menschen  die  kahle  Wand 
lieben,  obwohl  sie  oft  gar  nicht  wissen,  wie  romantisch  sie  ist  ? 
Sie  malen  aus  innerem  Bedürfnis  und  zweifeln  nicht  an  der  Zukunft 
der  Malerei.  Wenn  sie  theoretisieren,  so  machen  sie  auch  dies  malerisch, 
das  heißt  künstlerisch. 

Das  abgestorbene  Wort  Kunst  ist  ausgerechnet  im  Bauhaus  aufer- 
standen. Und  mit  dem  Wort  ist  die  Tat  verbunden. 
Glücklicherweise  und  endlich  verschwinden  von  den  Wänden  dank 
unseren  Freunden  (der  kahlen  Wand)  die  Mißgeburten  der  Malerei. 
Und  nicht  nur  wir,  geduldige,  ausharrende,  wenn  auch  «langsam 
alternde  Meister»,  sondern  mit  uns  wird  auch  die  heranwachsende 
Jugend  dafür  sorgen,  daß  die  kahle  Wand  dort,  wo  es  nötig  ist, 
weiter  kahl  bleibt,  und  daß  die  anderen  Wände  nicht  wieder  mit 
Mißgeburten  vollgestopft  werden,  sondern  «plan-  und  zweckmäßig» 
mit  schweigender  Freude  die  «malerischen  Welten»  an  sich  nehmen. 
Wer  hier  einen  Anlaß  zum  Trauern  findet,  soll  ruhig  weiter  trauern. 
Wir  freuen  uns. 


122 


Der  Blaue  Reiter  (Rückblick) 


1930  erschien  in  der  Zeitschrift  Das  Kunstblatt  von  Kandinsky 
ein  Brief  an  dessen  Herausgeber  Paul  Westheim.  Der  Blaue  Reiter, 
seine  Vorgeschichte  und  das  Drum  und  Dran,  werden  hier  von 
Kandinsky  aus  seiner  Erinnerung  dargestellt. 


Sehr  geehrter  Herr  Westheim ! 

Sie  fordern  mich  auf,  meine  Erinnerungen  an  die  Entstehung  des 
«Blauen  Reiter»   wachzurufen. 

Heute  -  nach  so  vielen  Jahren  -  ist  dieser  Wunsch  berechtigt,  und 
ich  komme  ihm  sehr  gern  nach. 

Heute  -  nach  so  vielen  Jahren  -  hat  sich  die  geistige  Atmosphäre 
in  dem  so  schönen  und  trotz  allem  doch  lieben  München  grund- 
sätzlich verändert.  Das  damals  so  laute  und  unruhige  Schwabing  ist 
still  geworden  -  kein  einziger  Laut  verbreitet  sich  von  dort.  Schade 
um  das  schöne  München  und  noch  mehr  schade  um  das  etwas  ko- 
mische, ziemlich  exzentrische  und  selbstbewußte  Schwabing,  in 
dessen  Straßen  ein  Mensch  -  sei  es  ein  Mann  oder  eine  Frau  (a  Weibs- 
build)  -  ohne  Palette,  oder  ohne  Leinwand,  oder  mindestens  ohne 
eine  Mappe  sofort  auffiel.  Wie  ein  «Fremder»  in  einem  «Nest».  Alles 
malte  .  .  .  oder  dichtete,  oder  musizierte,  oder  fing  zu  tanzen  an.  In 
jedem  Haus  fand  man  unter  dem  Dach  mindestens  zwei  Ateliers, 
wo  manchmal  nicht  gerade  so  viel  gemalt  wurde,  aber  stets  viel  dis- 
kutiert, disputiert,  philosophiert  und  tüchtig  getrunken  (was  mehr 
vom  Beutel-  als  vom  Moralzustand  abhängig  war). 
«Was  ist  Schwabing?»  fragte  einmal  ein  Berliner  in  München.  «Es 
ist  der  nördliche  Stadtteil»  sagte  ein  Münchner.  «Keine  Spur»,  sagte 


123 


ein  anderer,  «es  ist  ein  geistiger  Zustand.»  Was  richtiger  war.  Schwa- 
bing  war  eine  geistige  Insel  in  der  großen  Welt,  in  Deutschland, 
meistens  in  München  selbst. 

Dort  lebte  ich  lange  Jahre.  Dort  habe  ich  das  erste  abstrakte  Bild 
gemalt.  Dort  trug  ich  mich  mit  Gedanken  über  «reine»  Malerei,  reine 
Kunst  herum.  Ich  suchte  «analytisch»  vorzugehen,  synthetische  Zu- 
sammenhänge zu  entdecken,  träumte  von  der  kommenden  «großen 
Synthese»,  fühlte  mich  gezwungen,  meine  Gedanken  nicht  nur  der 
mich  umgebenden  Insel,  sondern  den  Menschen  außerhalb  dieser 
Insel  mitzuteilen.  Ich  hielt  sie  für  befruchtend  und  notwendig. 
So  entstand  von  selbst  aus  meinen  flüchtigen  Notizen  «pro  doma  sua» 
mein  erstes  Buch  «Über  das  Geistige  in  der  Kunst».  Ich  hatte  es  1910 
fertig  geschrieben  in  meiner  Schublade  liegen,  da  kein  einziger  Ver- 
leger den  Mut  hatte,  einige  (schließlich  ziemlich  geringe)  Verlags- 
kosten zu  riskieren. 

Auch  die  sehr  warme  Teilnahme  des  großen  Hugo  von  Tschudi 
nützte  nichts. 

Zu  derselben  Zeit  wurde  mein  Wunsch  reif,  ein  Buch  (eine  Art 
Almanach)  zusammenzustellen,  an  dem  sich  ausschließlich  Künstler 
als  Autoren  beteiligen  sollten.  Ich  träumte  von  Malern  und  Musikern 
in  erster  Linie.  Die  verderbliche  Absonderung  der  einen  Kunst  von 
der  anderen,  weiter  der  «Kunst»  von  der  Volks-,  Kinderkunst,  von 
der  «Ethnographie»1,   die  fest  gebauten  Mauern  zwischen  den  in 

1  Meine  erste  Begeisterung  für  Ethnographie  ist  alten  Datums :  als 
Student  der  Moskauer  Universität  bemerkte  ich  allerdings  ziemlich 
unbewußt,  daß  die  Ethnographie  ebenso  Kunst  wie  Wissenschaft 


124 


meinen  Augen  so  verwandten,  öfters  identischen  Erscheinungen,  mit 
einem  Wort  die  synthetischen  Beziehungen  ließen  mir  keine  Ruhe. 
Heute  kann  es  ja  sonderbar  erscheinen,  daß  ich  lange  keinen  Mit- 
arbeiter, keine  Mittel,  einfach  kein  genügendes  Interesse  für  diese  Idee 
finden  konnte. 

Es  war  die  kräftige  Anfangszeit  der  vielen  «Ismen»,  die  das  syn- 
thetische Empfinden  noch  nicht  kannte  und  in  temperamentvollen 
«Zivilkriegen»  das  Hauptinteresse  fand. 

Fast  an  einem  Tag  (1911-1912)  kamen  in  der  Malerei  zwei  große 
«Strömungen»  zur  Welt:  der  Kubismus  und  die  Abstrakte   (=  Ab- 
solute) Malerei.   Gleichzeitig  der  Futurismus,  Dadaismus  und  der 
bald  siegreich  gewordene  Expressionismus. 
Es  dampfte  nur  so ! 

Die  atonale  Musik  und  ihr  damals  überall  ausgepfiffener  Meister 
Arnold  Schönberg  regten  die  Gemüter  nicht  weniger  als  die  erwähnten 
malerischen  Ismen  auf.  Damals  lernte  ich  Schönberg  kennen  und  fand 
in  ihm  sofort  einen  begeisterten  Anhänger  der  Blaue-Reiter-Idee. 
(Es  war  damals  nur  ein  Briefwechsel,  die  persönliche  Bekanntschaft 
kam  erst  etwas  später  zustande.) 

Mit  einigen  zukünftigen  Autoren  stand  ich  bereits  in  Verbindung. 
Es  war  der  Blaue  Reiter  in  spe,  noch  ohne  Verkörperungsaussichten. 
Und  da  kam  Fran%  Marc  aus  dem  Sindeisdorf. 
Eine  Unterredung  genügte :  wir  verstanden  uns  vollkommen.  In  die- 


ist.  Die  entscheidende  Tatsache  war  aber  der  erschütternde  Ein- 
druck, den  ich  viel  später  im  Museum  für  Völkerkunde  in  Berlin 
von  der  Negerkunst  erlebte ! 


125 


sem  unvergeßlichen  Mann  fand  ich  ein  damals  sehr  seltenes  Exemplar 
(ist  es  heute  nicht  so  selten  ?)  eines  Künstlers,  der  weit  über  die  Grenzen 
einer  «Vereinsmeierei»  blicken  konnte,  der  nicht  äußerlich,  sondern 
innerlich  gegen  bindende,  hemmende  Traditionen  eingestellt  war. 
Das  Erscheinen  des  «Geistigen»  im  R.  Piper- Verlag  verdanke  ich 
Franz  Marc :  er  ebnete  die  Wege. 

Lange  Tage,  Abende,  hie  und  da  auch  halbe  Nächte  besprachen  wir 
unser  Vorgehen.  Klipp  und  klar  war  uns  beiden  von  vornherein, 
daß  wir  streng-diktatorisch  vorgehen  müssen:  volle  Freiheit  für  die 
Verwirklichung  der  verkörperten  Idee. 

Franz  Marc  brachte  in  dem  damals  sehr  jungen  August  Macke  eine 
hilfreiche  Kraft.  Wir  stellten  ihm  die  Aufgabe,  hauptsächlich  das 
ethnographische  Material  zu  besorgen,  was  wir  auch  selbst  mit- 
machten. Er  löste  seine  Aufgabe  glänzend  und  bekam  eine  weitere, 
über  Masken  einen  Aufsatz  zu  schreiben,  was  er  ebenso  schön  er- 
ledigte. 

Ich  besorgte  die  Russen  (Maler,  Komponisten,  Theoretiker)  und  über- 
setzte ihre  Artikel. 

Marc  brachte  aus  Berlin  eine  große  Anzahl  Blätter  -  es  war  die  «Brük- 
ke»,  die  erst  gebaut  wurde  und  in  München  vollkommen  unbekannt 
war. 

«Künstler,  schaffe,  rede  nicht!»  schrieben  und  sagten  uns  einige  Künst- 
ler und  lehnten  unsere  Aufforderung,  Artikel  zu  liefern,  ab.   Dies 
gehört  aber  zum  Kapitel  der  Ablehnungen,  Bekämpfungen,  Em- 
pörungen, was  hier  unberührt  bleiben  soll. 
Es  war  eilig!  Noch  vor  der  Erscheinung  des  Bandes  veranstalteten 


126 


Franz  Marc  und  ich  die  1.  Ausstellung  der  Redaktion  des  Blauen 
Reiters1  in  der  Galerie  Tannhauser  -  die  Basis  war  dieselbe:  kein 
Propagieren  einer  bestimmten,  exklusiven  «Richtung»,  das  Nebenein- 
anderstellen von  verschiedensten  Erscheinungen  in  der  neuen  Malerei 
auf  internationaler  Basis  und  .  .  .  Diktatur.  «...  wie  der  innere  Wunsch 
der  Künstler  sich  mannigfaltig  gestaltet»,  schrieb  ich  im  Vorwort. 
Die  zweite  (und  die  letzte)  Ausstellung  war  eine  grafische  in  der 
gerade  eröffneten  Galerie  Hans  Goltz,  der  vor  zwei  Jahren  etwa, 
kurz  vor  seinem  Tod,  mit  großer  Begeisterung  über  diese  famose 
Zeit  an  mich  schrieb. 

Mein  Nachbar  in  Schwabing  war  Paul  Klee.  Er  war  damals  noch  sehr 
«klein».  Ich  kann  aber  mit  berechtigtem  Stolz  behaupten,  daß  ich  in 
seinen  damaligen  ganz  kleinen  Handzeichnungen  (er  malte  noch  nicht) 
den  späteren  großen  Klee  gewittert  habe.  Eine  Zeichnung  von  ihm 
ist  im  Blauen  Reiter  zu  finden. 

Es  drängt  mich,  noch  den  überaus  großzügigen  Mäzen  von  Franz 
Marc,  den  auch  kürzlich  verstorbenen  Bernhard  Koehler,  zu  erwähnen. 
Ohne  seine  hilfreiche  Hand  wäre  der  Blaue  Reiter  doch  eine  schöne 
Utopie  geblieben,  auch  «Der  erste  Deutsche  Herbst- Salon»  von 
Herwarth  Waiden  und  noch  manches  andere. 

Mein  nächster  Plan  für  den  nächsten  Band  des  Blauen  Reiter  war, 
die  Kunst  und  die  Wissenschaft  nebeneinander  zu  stellen :  Ursprung, 
Werdegang  in  der  Arbeitsart,  Zweck.  Heute  weiß  ich  noch  viel  besser 

1  Den  Namen  «Der  Blaue  Reiter»  erfanden  wir  am  Karleetisch 
in  der  Gartenlaube  in  Sindeisdorf;  beide  liebten  wir  Blau,  Marc  - 
Pferde,  ich  -  Reiter.  So  kam  der  Name  von  selbst.  Und  der  märchen- 
hafte Kaffee  von  Frau  Maria  Marc  mundete  uns  noch  besser. 


127 


als  damals,  wie   viele  kleinere  Wurzeln  zu  einer  einzigen  großen 

zurückzuführen  sind  -  Arbeit  der  Zukunft. 

Aber  damals  kam  der  Krieg  und  schwemmte  auch  diese  bescheidenen 

Pläne  fort. 

Was  aber  durchaus  notwendig  ist  -  innerlich!  -  kann  verschoben, 

aber  nicht  mit  der  Wurzel  herausgerissen  werden. 

Mit  den  besten  Grüßen 
Ihr  Kandinsky. 


128 


\y* 


Paul  Klee 


Es  gibt  von  Kandinsky  nur  4  Aufsätze  über  Künstler-Kollegen. 
Einen  über  Paul  Klee,  einen  über  Sophie  Taeuber-Arp  und  zwei 
über  Franz  Marc.  Jener  über  Klee  ist  der  erste.  Er  erschien  in  der 
Zeitschrift  bauhaus  No  3/1931  anläßlich  des  Abschieds  von  Paul 
Klee  vom  Bauhaus.  Kandinsky  äußert  sich  darin  nicht  über  die 
Kunst  von  Klee,  sondern  über  seine  Erscheinung,  sein  Wirken  und 
seine  Auswirkung  am  Bauhaus. 


Diese  Nummer  der  bauhaus- Zeitschrift  ist  Paul  Klee  gewidmet. 
Die  Veranlassung  ist  Klees  Fortgang  vom  Bauhaus.  Es  wäre  mir 
lieber,    den   Auftrag   meiner   Bauhauskollegen,   diese   Nummer   zu 
redigieren,  aus  einem  entgegengesetzten  Grund  zu  übernehmen  - 
nicht  Fortgang,  sondern  Rückkehr. 

Volle  zehn  Jahre  war  die  Arbeit  am  Bauhaus  eng  mit  der  Tätigkeit 
Klees  an  unserem  Institut  verknüpft.  Solche  Verbindungen  reißen 
nicht  schmerzlos. 

Das  fühlen  intensiv  alle  Bauhausangehörigen  -  Lehrer  und  Stu- 
dierende, besonders  die,  welche  am  Unterricht  Klees  teilnahmen. 
Ich  weiß,  daß  es  auch  Klee  selbst  nicht  leicht  fiel,  sich  zum  Riß  zu 
entschließen. 

Was  mich  persönlich  anlangt,  erlaube  ich  mir,  auch  etwas  Subjektives 
auszusprechen.  Vor  mehr  als  20  Jahren  zog  ich  in  München  in  die 
Ainmillerstraße  und  erfuhr  bald,  daß  der  junge  Maler,  der  gerade 
mit  erstem  Erfolg  in  der  Galerie  Thannhauser  debütierte,  Paul  Klee, 
fast  Haus  an  Haus  neben  mir  wohnte.  Wir  blieben  bis  zum  Ausbruch 
des  Krieges  Nachbarn  und  aus  dieser  Zeit  stammt  der  Anfang  unsrer 
Freundschaft.  Der  Krieg  sprengte  uns  auseinander.  Erst  nach  acht 


130 


Jahren  führte  mich  das  Schicksal  ans  Bauhaus  in  Weimar  und  so 
wurden  wir  -  Klee  und  ich  -  zum  zweiten  Mal  Nachbarn:  fast 
nebeneinander  lagen  unsre  Ateliers  im  Bauhaus.  Bald  wieder  eine 
Sprengung:  das  Bauhaus  flog  mit  einer  Geschwindigkeit  aus  Weimar 
heraus,  um  die  es  ein  Zeppelin  beneiden  könnte.  Diesem  Flug  ver- 
danken Klee  und  ich  die  dritte  und  die  engste  Nachbarschaft:  über 
fünf  Jahre  wohnen  wir  dicht  aneinander.  Nur  eine  Brandmauer  trennt 
unsre  Wohnungen,  wir  können  uns  aber  trotz  der  Mauer  und  ohne 
das  Haus  zu  verlassen  besuchen  -  ein  kurzer  Gang  durch  den  Keller. 
Bayern  -  Thüringen  -  Anhalt.  Was  weiter  ?  Aber  auch  ohne  Keller- 
gang bleibt  die  geistige  Nachbarschaft  bestehen. 

Für  Klee  ist  das  Bauhaus  bereits  Erinnerung  geworden.  Aber  so  bald 
vergißt  er  es  nicht.  Fast  vom  allerersten  Anfang  hat  Klee  das  Schick- 
sal dieses  vielgeprüften  Instituts  miterlebt  und  geteilt:  die  anfäng- 
lichen «heroischen»  Zeiten,  als  die  jungen  Menschen  fast  durchwegs 
die  Wandervogelgestalt  liebten  -  lange  Haare,  die  schon  nach 
wenigen  Tagen  immer  kürzer  wurden,  dekolletierte  Brust,  die  bald 
einen  Schlips  bekam,  Sandalen,  die  sich  später  sogar  in  Lackschuhe 
umwandelten. 

Dies  war  nur  die  äußere  und  vorübergehende  Seite  des  Bauhäuslers. 
Innerlich  war  er  schon  damals  ein  junger  Mensch,  der  mit  Ausdauer 
und  Ernst  an  der  Gestaltung  des  neuen  Wohnwesens  mitzuarbeiten 
suchte,  ernst  studierte  und  die  schöpferische  Idee  verehrte.  Wenn  Klee 
nicht  direkt  auf  die  Kürzung  der  Haare  wirkte,  so  entwickelte  sein 
Wort  und  seine  Tat,  sein  eigenes  Beispiel  die  inneren  positiven 
Seiten  des  Studierenden  in  hohem  Maße.  Das  Wort  allein  ist  schwach, 


131 


wenn  es  nicht  durch  das  tatkräftige,  offenliegende  Beispiel  unter- 
stützt ist.  Am  Beispiel  der  restlosen  Hingabe  an  seine  Arbeit  können 
wir  alle  bei  Klee  lernen.  Und  haben  bestimmt  gelernt. 
Damit  treten  nicht  nur  die  rein  künstlerischen,  sondern  auch  die  rein 
menschlichen  Qualitäten  in  den  Vordergrund.  Diese  letzteren  sind 
nicht  so  auffallend  und  ihr  Einfluß  nicht  so  leicht  zu  bemerken.  Doch 
lehrt  mich  meine  pädagogische  Erfahrung,  daß  die  Jugend  (wenn 
auch  oft  unbewußt)  für  menschliche  Eigenschaften  des  Lehrers  nicht 
weniger  lebendiges  Interesse  hat,  als  für  seine  sonstigen  Qualitäten 

-  die  künstlerischen,  wissenschaftlichen.  Jedes  Wissen  ohne  mensch- 
liche Basis  bleibt  auf  der  Oberfläche :  die  Quantität  (Anhäufung  von 
Kenntnissen)  wächst,  aber  die  Qualität  (die  befruchtende  Kraft  der 
Kenntnisse)  bleibt  unverändert.  Das  Wachsen  des  äußeren  Quantums 
führt  manchmal  zu  innerer  «0»,  nicht  selten  zum  «Minus». 

Klee  verbreitete  am  Bauhaus  eine  gesunde,  befruchtende  Atmosphäre 

-  als  großer  Künstler  und  als  klarer,  reiner  Mensch.  Das  Bauhaus 
weiß  es  zu  schätzen. 


132 


Betrachtungen  über  die  abstrakte  Kunst 


1930  erschien  die  erste  große  Kandinsky-Monografie  von  Will 
Grohmann  im  Verlag  Cahiers  d' Art  in  Paris,  und  damit  begann  das 
Interesse  für  ihn  in  der  Stadt,  die  sich  so  gern  als  führend  und 
avantgardistisch  in  der  Kunst  ausgibt.  Daß  Kandinsky  über 
60  Jahre  alt  werden  mußte,  bis  er  in  Paris  einigermaßen  zu  An- 
erkennung gelangte,  wirft  immerhin  ein  eigenartiges  Licht  auf  den 
Pariser  «Kunstbetrieb». 

In  Cabiers  d'Art  No  1/1931,  herausgegeben  von  Christian  Zervos 
in  Paris,  erschien  dann  von  Kandinsky  der  Aufsatz  «Reflexions  sur 
l'Art  Abstrait».  Obschon  seit  jeher  sogenannte  «abstrakte  Kunst» 
in  Paris  entstand,  -  waren  doch  Kupka,  Mondrian,  Vantongerloo, 
van  Doesburg,  Arp  seit  Jahren  in  Paris  tätig,  bestand  doch  schon 
das  Manifest  Art  concret  von  van  Doesburg  (1930),  Cercle  et  Carre, 
herausgegeben  von  Michel  Seuphor,  und  war  die  internationale 
Vereinigung  «Abstraction-Creation»  im  Entstehen  -,  war  es  nötig, 
daß  Kandinsky  einen  grundsätzlichen  Aufsatz  für  Cabiers  d'Art 
schrieb,  der  nochmals  darstellen  mußte,  wann  «Kunst»  =  «Kunst» 
sei.  Man  konnte  sich  damals  in  Frankreich  noch  schwer  derartige 
Gedankengänge  vorstellen.  Der  Kubismus  hatte  die  Entwicklung 
auf  Jahre  hinaus  blockiert. 


Die  «abstrakten»  Maler  sind  die  Angeklagten,  das  heißt  also,  daß  sie 
sich  verteidigen  müssen.  Sie  müssen  beweisen,  daß  die  «gegenstands- 
lose» Malerei  wirklich  Malerei  ist  und  neben  der  anderen  ihre  Exi- 
stenzberechtigung hat. 

Diese  Art  der  Fragestellung  ist  ungenau  und  ungerecht. 
Ich  werde  versuchen,  die  Frage  umzukehren  und  von  den  ausschließ- 
lichen Parteigängern  der  gegenständlichen  Malerei  verlangen,  daß 
sie  beweisen :  ihre  Malerei  sei  die  einzig  wahre. 

Mit  andern  Worten:  daß  die  Parteigänger  der  gegenständlichen 
Malerei  beweisen,  daß  der  Gegenstand  in  der  Malerei  ebenso  unentbehr- 


134 


lieh  ist  wie  die  Farbe  und  die  Form  (in  einem  gewissen  Sinne),  ohne 
die  man  sich  die  Malerei  nicht  denken  konnte. 

Die  Erfahrung  verschiedener  Zeitalter  hat  Gemälde  hervorgebracht, 
die  nicht  in  der  Darstellung  ihre  Zuflucht  suchten  und  die  auf  diese 
Weise  besonders  den  Wert  der  unentbehrlichen  Elemente  -  Form  und 
Farbe  -  vergrößerten. 

Einige  unserer  heutigen  «abstrakten»  Malereien  sind  im  besten  Sinne 
des  Wortes  mit  künstlerischem  Leben  begabt:  sie  haben  den  Puls- 
schlag des  Lebens,  die  Ausstrahlung,  und  sie  üben  auf  das  Innere 
des  Menschen  durch  Vermittlung  des  Auges  eine  Bewegung  aus. 
Auf  eine  rein  malerische  Weise.  Ebenso  gibt  es  unter  den  heutigen 
gegenstandslosen  Bildern  nicht  nur  solche,  die  mit  künstlerischem 
Leben,  im  besten  Sinne  des  Wortes,  begabt  sind. 

Ich  möchte  kurz  bemerken,  daß  die  Etikette  «abstrakt»  zum  Irrtum 
verleitet  und  schädlich  ist,  wenn  man  sie  buchstäblich  nimmt.  Aber 
soviel  ich  weiß,  wurde  zu  ihrer  Zeit  die  Etikette  «impressionistisch» 
ausgedacht  und  angewendet,  um  dieser  Bewegung  eine  Wendung 
ins  lächerliche  zu  geben.  Der  Ausdruck  «Kubismus»,  wörtlich  ge- 
nommen, ist  eine  schädliche  Banalisierung  des  Neuen  im  Kubismus. 
Die  Vorwürfe,  die  man  der  abstrakten  Malerei  macht,  sind  mir  seit 
langem  bekannt. 

Sie  wäre  eine  Sackgasse:  Haben  die  Impressionisten,  Kubisten,  Ex- 
pressionisten und  Nachimpressionisten  nicht  ganz  genau  dieselben 
Prophezeiungen  hören  müssen?  Alle  diese  «Richtungen»  -  denn  so 
nennt  man  im  allgemeinen  die  Entdeckungen  -  wurden  von  der 
Presse,  dem  Publikum  und  selbst  den  Künstlern  als   «anarchisch» 


135 


betrachtet  (damals  gab  es  noch  keinen  Bolschewismus),  die  das 
«ewige»  Grundgesetz  der  Malerei  bedrohen  und  zerstören.  Man 
tröstete  sich,  indem  man  sagte,  daß  sie  in  eine  Sackgasse  führten. 
Man  versicherte,  daß  die  Impressionisten  die  Kunst  durch  ihre  Liebe 
zur  Landschaft  erniedrigten  und  daß  diese  Liebe  einer  katastrophalen 
Abnahme  der  schöpferischen  Kraft  entspräche.  Man  sprach  nicht  nur 
von  einer  Sackgasse,  sondern  vom  Ende  der  Kunst.  Was  Beispiele 
anbetrifft,  so  ist  es  nicht  schwer,  sie  in  der  Kunstgeschichte  zu 
finden. 

Die  Natur  der  Kunst  bleibt  stets  unwandelbar,  wenn  es  sich  zum  Beispiel 
um  Malerei  oder  Musik  handelt.  Wäre  es  möglich,  einen  Menschen 
zu  finden,  der  behauptet,  daß  das  Lied  oder  die  Oper  allein  dem 
wahren  Wesen  der  Musik  entsprechen,  und  daß  die  reine  sympho- 
nische Musik  intellektuell  und  erkünstelt  sei  und  in  einer  Sackgasse 
endige!  Es  gab  eine  Zeit,  wo  man  solche  Behauptungen  zu  hören 
bekam. 

Nur  was  dem  Geist  den  Rücken  kehrt,  gerät  in  Sackgassen.  Hin- 
gegen öffnet  das,  was  aus  dem  Geist  geboren  wird  und  ihm  dient, 
alle  Sackgassen  und  führt  zur  Freiheit. 

Intellektuelle  Arbeit.  -  Es  ist  immer  ein  wenig  abträglich,  sich  nur  auf 
die  Vergangenheit  zu  stützen.  Es  ist  gefährlich  zu  behaupten,  daß  die 
Neuheiten  Irrtümer  wären,  weil  es  sie  noch  niemals  gegeben  hat. 
Und  schon  aus  dem  Grund,  weil  unsere  Kenntnis  der  Vergangenheit 
sehr  mangelhaft  ist.  Tatsächlich  kann  man  sehr  oft  in  der  Vergangen- 
heit Erscheinungen  finden,  die  zum  mindesten  eng  verschwägert  sind 
mit  den  «allerneuesten»  Phänomenen,  und  die  es  noch  niemals  gegeben 


136 


zu  haben  scheint;  denken  wir  zum  Beispiel  an  Frobenius  und  an 
seine  neuesten  Entdeckungen. 

Was  die  intellektuelle  Arbeit  angeht,  so  sind  wir  im  Recht  zu  ver- 
sichern, daß  es  in  der  Kunstgeschichte  Zeiten  gab,  in  denen  die  Mit- 
arbeit der  Vernunft  (intellektuelle  Arbeit)  nicht  bloß  eine  wichtige, 
sondern  eine  entscheidende  Rolle  spielte.  Es  wäre  also  unleugbar, 
daß  die  intellektuelle  Arbeit  manchmal  eine  notwendige  Kraft  der 
Mitarbeit  ausmacht. 

Wir  können  außerdem  auch  ganz  mit  Recht  behaupten,  daß  bis  zur 
Gegenwart  die  intellektuelle  Arbeit  als  solche,  das  heißt  ohne  in- 
tuitives Element,  niemals  lebende  Werke  hervorbrachte. 
Aber  man  kann  ferner  nur  «überzeugt»  sein,  «fest  glauben»,  prophe- 
zeien, daß  es  niemals  anders  ist  mit  diesem  Verhältnis,  weil  es  anders 
gar  nicht  sein  kann. 

Das  ist  auch  meine  persönliche  «Überzeugung»,  ohne  daß  ich  sie  auf 
rein  theoretische  Weise  begründen  könnte.  Ich  kann  nur  aus  persön- 
licher Erfahrung  sprechen:  meine  verschiedenen  Versuche,  von  An- 
fang bis  zu  Ende  auf  eine  ausschließliche  vernunftgemäße  Art  zu 
verfahren,  haben  niemals  zu  einer  wahren  Lösung  geführt.  Ich  zeich- 
nete zum  Beispiel  das  geplante  Bild  gemäß  mathematischer  Propor- 
tionen auf  eine  berechnete  Fläche;  aber  schon  die  Farbe  veränderte 
die  Proportionen  der  Zeichnung  so  gründlich,  daß  man  es  nicht 
bloß  der  «Mathematik»  allein  zuschreiben  konnte. 
Das  weiß  jeder  Künstler,  für  den  die  Elemente  lebende  Dinge  sind. 
Außerdem  sind  allein  in  der  Farbe  (indem  man  sie  so  weit  wie  möglich 
von  der  Form  abstrahiert)  die  mathematische  «Mathematik»  und  die 


137 


«malerische»  Mathematik  gänzlich  voneinander  verschiedene  Bereiche. 
Wenn  man  zu  einem  Apfel  eine  immer  größer  werdende  Zahl  Äpfel 
hinzufügt,  vermehrt  sich  die  Zahl  der  Äpfel,  und  man  kann  sie  zu- 
sammenzählen. Aber  wenn  ich  zu  einem  Gelb  immer  mehr  Gelb 
hinzufüge,  vermehrt  sich  das  Gelb  nicht,  sondern  verringert  sich 
(das,  was  wir  am  Anfang  haben  und  das,  was  zum  Schluß  blieb,  kann 
nicht  berechnet  werden). 

Unglücklich  derjenige,  der  sich  allein  der  Mathematik  -  der  Ver- 
nunft überläßt. 

Das  Grundgesetz,  das  die  Arbeitsmethode  und  die  Energien  des 
«gegenständlichen»  und  des  «ungegenständlichen»  Malers  lenkt,  ist 
absolut  das  gleiche. 

Die  normalen  Werke  der  abstrakten  Malerei  entspringen  der  gemein- 
samen Quelle  aller  Künste :  der  Intuition. 

Die  Vernunft  spielt  in  allen  diesen  Fällen  die  gleiche  Rolle:  sie  ar- 
beitet mit,  ob  es  sich  nun  um  Werke  handelt,  die  die  Natur  nach- 
ahmen oder  nicht,  aber  immer  als  sekundärer  Faktor. 
Die  Künstler,  die  sich  «reine  Konstruktivsten»  nennen,  haben  ver- 
schiedene Versuche  gemacht,  um  auf  einer  rein  materialistischen 
Basis  zu  konstruieren.  Sie  suchten  das  «veraltete»  Gefühl  (Intuition) 
wegzuschaffen,  um  der  «vernünftigen»  Gegenwart  mit  Mitteln  zu 
dienen,  die  ihr  angepaßt  sind.  Sie  vergaßen,  daß  es  zwei  Mathematiken 
gibt.  Und  außerdem  konnten  sie  niemals  eine  klare  Formulierung 
aufstellen,  die  sich  auf  alle  Verhältnisse  des  Bildes  erstreckte.  Sie 
waren  somit  gezwungen,  entweder  schlechte  Bilder  zu  malen,  oder 
die  Vernunft  durch  «veraltete»  Intuition  zu  korrigieren. 


138 


Henri  Rousseau  sagte  eines  Tages,  daß  seine  Bilder  besonders  gut 
gelungen  wären,  wenn  er  in  sich  auf  eigentümliche  Art  klar  «die 
Stimme  seiner  verstorbenen  Frau»  vernahm.  Ebenso  rate  ich  meinen 
Schülern  denken  zu  lernen,  aber  Bilder  nur  zu  malen,  wenn  sie  die 
Stimme  «ihrer  verstorbenen  Frau»  hören. 

Geometrie.  -  Warum  wird  nun  ein  Gemälde,  in  welchem  sich  «geo- 
metrische» Formen  befinden,  «geometrisch»  genannt,  und  ein  Ge- 
mälde, in  dem  Pflanzenformen  vorkommen,  nicht  «botanisch»  ? 
Oder  kann  man  vielleicht  ein  Bild,  auf  dem  eine  Guitarre  oder  eine 
Violine  dargestellt  ist,  «musikalisch»  nennen  ? 

Man  wirft  einigen  «abstrakten»  Malern  vor,  daß  sie  sich  für  Geo- 
metrie interessieren.  Als  ich  Anatomie  an  der  Malschule  studieren 
mußte  (woran  ich  keineswegs  Geschmack  fand,  um  so  mehr  als  der 
Unterricht  des  Anatomieprofessors  schlecht  war)  sagte  mir  mein 
Lehrer  Anton  Azbe:  «Sie  müssen  die  Anatomie  kennen,  doch  vor 
der  Staffelei  müssen  Sie  sie  vergessen.» 

Nach  der  Landschaftsperiode,  als  diese  «zugelassen»  war,  wurden  die 
Presse,  das  Publikum  und  selbst  die  Künstler  von  einem  neuen 
Schrecken  erfaßt,  da  man  plötzlich  mehr  und  mehr  «Stilleben» 
(natures  mortes)  zu  malen  anfing.  Die  Landschaft  ist  wenigstens 
etwas  Lebendes  (nature  vivante),  sagte  man  damals,  und  nicht 
umsonst  nennt  man  diese  «nature»  «morte». 

Aber    der    Maler    hatte    zurückhaltende,    stille,    fast    unbedeutende 
Gegenstände  nötig.  Wie  still  ist  ein  Apfel  gegen  einen  Laokoon! 
Ein  Kreis  ist  noch  stiller.  Mehr  noch  als  ein  Apfel.  Unser  Zeitalter 
ist  nicht  ideal,  aber  unter  den  seltenen  wichtigen  «Neuigkeiten»  oder 


140 


den  neuen  Eigenschaften  des  Menschen  muß  man  die  wachsende 
Fähigkeit  zu  schätzen  wissen:  einen  Klang  in  der  Stille  zu  hören.  Und 
so  wie  der  geräuschvolle  Mensch  durch  die  stillere  Landschaft, 
wurde  die  Landschaft  selbst  durch  das  noch  stillere  Stilleben  ersetzt. 
Man  ging  noch  einen  Schritt  weiter.  Heutzutage  sagt  ein  Punkt  im 
Bilde  manchmal  mehr  als  ein  menschliches  Gesicht. 
Eine  Vertikale,  die  sich  einer  Horizontalen  verbindet,  erzeugt  einen 
fast  dramatischen  Klang.  Die  Berührung  des  spitzen  Winkels  eines 
Dreiecks  mit  einem  Kreis  hat  in  der  Tat  nicht  weniger  Wirkung  als 
die  des  Finger  Gottes  mit  dem  Finger  Adams  bei  Michelangelo. 
Und  wenn  die  Finger  nicht  Anatomie  oder  Physiologie  sind,  sondern 
mehr,  nämlich  malerische  Mittel,  sind  Kreis  und  Dreieck  nicht 
Geometrie,  sondern  mehr:  malerische  Mittel.  Zuweilen  spricht  die 
Stille  sogar  stärker  als  das  Laute,  und  die  Stummheit  bekommt  eine 
klare  Beredsamkeit. 

Die  abstrakte  Malerei  kann  natürlich  außer  den  sogenannten  sehr 
strengen,  geometrischen  Formen  von  einer  unbegrenzten  Zahl  so- 
genannter freier  Formen  Gebrauch  machen  und  neben  den  primären 
Farben  eine  unbegrenzte  Menge  unerschöpflicher  Abtönungen  ver- 
wenden, -  jedesmal  im  Einklang  mit  dem  Ziel  des  gegebenen  Bildes. 
Was  den  Grund  betrifft,  weshalb  sich  diese  scheinbar  neue  Fähigkeit 
bei  den  Menschen  zu  entwickeln  beginnt,  würde  uns  hier  zu  weit 
führen.  Es  genügt  hier  zu  sagen,  daß  sie  mit  der  scheinbar  neuen 
Fähigkeit  verbunden  ist,  die  es  dem  Menschen  erlaubt,  unter  der 
Oberfläche  der  Natur  sein  Wesen,  seinen  «Inhalt»  zu  spüren.  Mit  der 
Zeit  wird  man  schlagend  beweisen,  daß  die  «abstrakte»  Kunst  nicht 


141 


die  Verbindung  mit  der  Natur  ausschließt,  sondern  daß  im  Gegenteil 

diese  Verbindung  größer  und  intensiver  ist  als  je  in  jüngster  Zeit. 

Die  Geister,  die  beim  Anblick  einiger  Dreiecke  in  einem  Gemälde 

Gefangene  dieser  Dreiecke  bleiben,  und  die  somit  unfähig  sind,  die 

Malerei  zu  sehen,  sind  dieselben  Geister,  die  auf  jede  männliche  Figur 

der  Antike  Feigenblätter  anbringen  ließen. 

Aber  ich  glaube,  daß  selbst  das  Feigenblatt  ihnen  niemals  für  die 

plastische  Form  des  Altertums  die  Augen  hat  öffnen  können. 

Vergessen  wir  übrigens  nicht,  was  ein  großer  Theatermann,  Nelidoff, 

in  seiner  Geschichte  des  russischen  Theaters  gesagt  hat:  daß  nichts 

mit  solcher  Erbitterung  bekämpft  wird  als  eine  neue  Form  in  der 

Kunst. 

Die  ungewohnte  Form  verdeckt  den  Gehalt :  so  ist  es  bei  den  meisten 

Menschen. 

Allein  die  Zeit  ist  fähig,  diesen  Stand  der  Dinge  zu  ändern. 


142 


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Fragen  und  Antworten 

1935  legte  der  Herausgeber  der  Gaceta  de  Arte,  Edoardo  Westerdal 
in  Tenerifa,  Kandinsky  einige  Fragen  vor,  die  hier  wiedergegeben 
sind  und  auf  die  Kandinsky  antwortete. 

Fragen  der  «Gaceta  de  Arte»  Tenerife 

1 .  Gibt  es  in  der  Kunst  der  Gegenwart  eine  Linie,  die  eine  Vermitt- 
lung darstellt  zwischen  zwei  so  gegensätzlichen  Tendenzen  wie  die 
Flucht  vom  Objekt  gegen  die  reinen  Zonen  der  Abstraktion  und  der 
Rückkehr  zu  ihm  als  dem  Repräsentanten  unserer  sichtbaren  oder 
fühlbaren  Welt? 

2.  Welches  ist  die  Stellung  des  Künstlers  vor  den  komplexen  poli- 
tisch-sozialen oder  sittlich- wirtschaftlichen  Problemen  unserer  Zeit? 

3.  Kann  man  sich  seiner  Beeinflussung  entziehen  ? 

4.  Sind  sein  Einfluß  und  seine  Teilnahme  natürlich  ? 

5.  Gibt  es  eine  Kunst  der  Reklame  ? 

6.  Leistet  die  Kunst  einen  Dienst  oder  nicht  ? 

7.  Befindet  sich  die  gegenwärtige  Kunst  in  einer  Krise  ? 

8.  Die  unmittelbare  Realität  einer  Welt  außerhalb  der  uns  bekannten, 
sei  es  eine  vorausgesehene  oder  eine  durch  die  konstante  Neuschöp- 
fung aus  unserer  Innenwelt  entstandene  —  führt  sie  uns  zu  einer 
Interpretation  eines  neuen  Menschen  oder  einer  neuen  Epoche  der 
Dekadenz  oder  einer  Erhöhung  der  Kultur  ? 

Antworten  auf  die  Fragen  der  «Gaceta  de  Arte»  Tenerife 

1.  «Die  Flucht  vom  Objekt»  bedeutet  nicht  die  Flucht  von  der  Natur 


144 


im  allgemeinen.  Jede  wahre  Kunst  ist  ihren  Gesetzen  unterworfen. 
Es  ist  nicht  nötig,  sich  an  die  «Natur»  zu  halten,  denn  diese  ist  nur 
ein  Teil  der  Natur  im  allgemeinen.  Man  kann  sich  der  Vermittlung 
der  «Natur»  enthalten,  wenn  man  sich  direkt  in  Beziehung  setzen 
kann  mit  dem  Ganzen. 

Die  sogenannte  abstrakte  Kunst  ist  denselben  Gesetzen  unterworfen. 
Wenn  diese  unvermeidliche  Verbindung  nicht  vorhanden  ist  in  einem 
Werk,  dann  will  das  heißen,  daß  es  kein  Kunstwerk  ist.  Um  dies  zu 
erkennen,  sind  nicht  die  20  Jahre  nötig,  die  seit  meiner  Feststellung, 
daß  «die  Frage  der  Form  im  Prinzip  nicht  existiert»  (siehe  «Über  die 
Formfrage»,  Der  Blaue  Reiter \  München  1912),  verflossen  sind. 

2.  Die  Stellung  des  Künstlers  «vor  den  komplexen  politischen,  sozialen 
oder  sittlich-wirtschaftlichen  Problemen»  ist  über  diesen  Problemen. 
Die  künstlerische  Arbeit  verlangt  den  ganzen  Menschen  und  eine 
ganze  Vertiefung  in  die  Welt  der  Kunst. 

3.  Aber  der  Künstler  ist  ein  natürliches  Glied  seiner  Zeit.  Wenn  der 
Geist  dieser  Zeit  die  Kraft  besitzt,  ihn  in  seinen  Dienst  zu  ziehen, 
dann  tut  er  es,  ohne  es  zu  wissen.  Es  ist  wohl  möglich  zu  sagen  «ab 
morgen  werde  ich  politische,  soziale,  marxistische  oder  faschistische 
Malerei  machen»,  aber  es  ist  unmöglich,  sie  auch  ausdrücklich  zu 
machen.  Als  ich  zu  Beginn  des  «Großen  Krieges»  nach  Moskau  kam, 
sagte  mir  einer  meiner  Kollegen:  «Wohlan,  nun  werden  wir  also  im 
nationalen  Sinn  malen?»  Ich  habe  meinerseits  gefragt:  «Und  nach 
Kriegsende?».  Man  sang  schon  in  fast  allen  Ländern  «nationale 
Lieder»,  aber  ich  war  froh,  kein  Sänger  zu  sein.  Und  ich  bin  es  noch 
heute.  Das  ist  meine  Antwort  auch  für  Frage  4. 


145 


5.  Gerade  diese  nationalen  Lieder  sind  eine  Art  Reklame.  Aber  es 
gibt  noch  eine  Kunst  der  Reklame  -  für  die  beste  Schokolade  der 
Welt,  für  die  Büstenhalter  und  die  Zigaretten  «Balto». 

6.  Die  Kunst  leistet  einen  Dienst,  ohne  jeden  Zweifel,  aber  nicht 
dem  «aktuellen  Leben».  Es  ist  ein  Dienst  am  Geist  -  hauptsächlich 
heute,  wo  der  Geist  nichts  anderes  als  das  fünfte  Rad  am  Wagen  ist: 
einmal,  später,  wird  man  dieses  fünfte  Rad  nötig  haben. 

7.  Außer  der  schrecklichen  wirtschaftlichen  Krise  existiert  heute  noch 
eine  weit  schrecklichere  Krise  -  das  ist  die  Krise  des  Geistes.  Der 
Grund  dieser  Krise  ist  die  Propagierung  engster  materialistischer 
Ideen.  Eines  der  gefährlichsten  Resultate  dieser  Propagierung  ist  das 
wachsende  Interesse  für  die  Manifestationen  des  Geistes.  So  auch 
das  wachsende  Interesse  für  die  Kunst.  Hier  findet  sich  die  Erklärung 
für  eine  verderbliche  Tatsache:  Die  Kunst  ist  aus  dem  «Leben»  ge- 
stoßen worden.  Und  gleichfalls  für  den  Versuch,  die  Kunst  zu 
«retten»,  indem  man  sie  zwang,  «in  den  Dienst  des  aktuellen  Lebens» 
zu  treten.  Hierin  sehe  ich  die  einzige  Kunstkrise  in  unseren  düsteren 
Tagen.  Aber  die  Kunst  wird  Siegerin  bleiben. 

8.  Ein  kurzer  oder  ein  tiefer  Blick  auf  das  «Leben»  der  zivilisierten 
Nationen  genügt,  um  heute  die  Abwesenheit  einer  wahren  Kultur 
festzustellen.  Die  Notwendigkeit  und  die  Aufgabe,  jedem  mensch- 
lichen Wesen  Nahrung  und  befriedigende  Lebensumstände  zu  garan- 
tieren, versteht  sich  von  selbst.  Aber  ein  menschliches  Wesen,  dem 
die  Befriedigung  dieser  Seite  des  Lebens  garantiert  ist  und  das 
andrerseits  der  geistigen  Kultur  beraubt  ist,  bleibt  lediglich  eine 
Verdauungsmaschine.  Aber  unter  dieser  erschreckenden  Oberfläche 


146 


gibt  es  eine  geistige  Bewegung,  die  noch  zu  wenig  sichtbar  ist,  aber 
die  der  Krise  und  der  Dekadenz  ein  Ende  bereiten  wird.  Eine  der  vor- 
bereitenden Kräfte  dieser  «Auferstehung»  ist  die  freie  Kunst. 


147 


w 


Berechnung 


1935  veranstaltete  das  Kunstmuseum  Luzcrn  eine  Ausstellung 
«These  — Antithese— Synthese».  Der  sorgfaltig  redigierte  Katalog 
enthielt  auch  einen  Text  von  Kandinsky,  in  dem  erden  Vorstellungen 
entgegentritt,  daß  man  unter  Anwendung  der  von  ihm  früher  als 
möglich  und  erstrebenswert  bezeichneten  «Rezeptbücher»,  -  ge- 
wissermaßen automatisch,  —  «Kunst»  machen  könnte.  Auf  diesen 
Irrtum  hinzuweisen,  scheint  uns  auch  heute  wieder  aktuell,  be- 
sonders seitdem  die  Flut  der  abstrakten  und  konkreten  Malerei  und 
Plastik  ein  Ausmaß  angenommen  hat,  das  eine  Besinnung  auf  das 
Wesentliche  des  Künstlerischen  und  weniger  des  Rezeptmäßigen 
dringend  erfordert.  Denn  jedes  Rezept,  unvernünftig  verwendet, 
erstickt  das  Werk  im  Akademismus. 


Was  ist  ein  Kochbuch  ?  Eine  geordnete  Sammlung  von  zweckmäßigen 
Rezepten. 

Was  sind  Kochrezepte  ?  Eine  Aufzählung  von  «Elementen»  und  eine 
Angabe  der  Proportion.  Dazu  der  Werdegang  der  Zubereitung. 
Besteht  eine  volle  Sicherheit,  daß  das  genaue  Befolgen  dieser  Re- 
zepte schmackhafte  Speisen  zur  Folge  haben  wird  ?  Ein  echter  Koch 
würde  über  diese  Frage  lächeln.  Ohne  «Zunge»  geht  es  nicht. 
Ein  Bild  ist  auch  eine  «Speise»,  die  aus  proportionierten  Elementen 
besteht  und  eine  genaue  «Zubereitung»  verlangt.  Deshalb  gibt  es 
Malbücher. 

Es  gibt  sogar  noch  mehr.  In  einigen  Fällen  gibt  es  schon  heute  eine 
Möglichkeit,  ein  echtes  Werk  zu  «zerlegen»,  was  nicht  nur  amüsant, 
sondern  nicht  selten  lehrreich  ist.  Es  ist  vielleicht  ebenso  lehrreich, 
wie  eine  spezielle  Wissenschaft,  Anatomie  genannt,  lehrreich  ist. 
Elemente,  Proportionen,  Zusammenstellung,  die  sich  zahlenmäßig 
ausdrücken   lassen.    Wie   es,    denke   ich,    jede   Erscheinung   zuläßt. 


149 


Fragen  Sie  aber  besser  keinen  Anatomen,  ob  man  mit  anatomischen 
Angaben  -  Elemente,  Proportion,  Aufbaugesetze  -  einen  leben- 
digen Menschen  herstellen  könnte. 

Ich  ziehe  vor,  vom  Kosmos  und  kosmischen  Gesetzen  nicht  zu  reden. 
Daß  Kunstwerke  Zahlenausdrücke  bekommen  könnten  (und  mit  der 
Zeit  dies  immer  leichter  zu  erreichen  sein  wird),  bedeutet  nur,  daß 
unsere  Kunsturteile  nicht  ganz  «aus  der  Luft  gegriffen»  werden,  son- 
dern daß  sie  eine  natürliche  und  eine  natürlich-begründete  Unterlage 
haben.  Speziell  der  deutsche  Ausdruck  «es  sitzt»  läßt  diese  Unterlage 
durchblicken. 

Auf  die  Frage,  warum  denn  «neue  Kunstrichtungen»  stets  abgelehnt 
werden  (und  wie  temperamentvoll  manchmal!)  ist  die  Antwort 
leicht:  weil  das  auf  die  früheren  «Rezepte»  eingestellte  Auge  nicht 
gleich  die  neuentdeckten  «Rezepte»  aufzunehmen  vermag.  Es  muß 
Zeit  zur  Neueinstellung  haben.  Das  könnte  ich  «Augenkonservatis- 
mus» nennen.  Zum  Schluß  möchte  ich  dem  Absender  (Künstler)  und 
dem  Empfänger  (Kunstliebhaber)  warmherzig  raten,  das  Denken  und 
das  Fühlen  voneinander  zu  halten. 

Wie  alle  Rezepte  der  Welt  es  nie  allein  zu  einem  Werk  bringen  können, 
so  können  sie  auch  nicht  das  für  das  «Kunstverständnis»  unbedingt 
notwendige  Gefühl  ersetzen.  Der  Kopf  ist  keine  schlechte  Einrich- 
tung. 

Aber  ein  «gefühlloser»  Kopf  ist  schlechter  als  ein  «kopfloses»  Ge- 
fühl. Wenigstens  in  der  Kunst. 


150 


fetf 


Die  Kunst  von  heute  ist  lebendiger  denn  je 


«Die  Kunst  von  heute  ist  lebendiger  denn  je»  ist  für  No  1-4/ 
1935  der  Zeitschrift  Cahiers  d'Art,  Paris,  auf  eine  Umfrage  ihres 
Herausgebers  Christian  Zervos  geschrieben.  Konzentriert  stellt 
hier  Kandinsky  die  Entwicklung  seiner  Kunst  und  ihren  Sinn  dar. 


Alle  die  durch  diese  Rundfrage  aufgeworfenen  Fragen  sind  legitime 
Kinder  der  Krise,  nicht  der  bewegenden  Wirtschaftskrise,  die  nur  die 
Folge  einer  tieferen  Krise  ist,  sondern  der  Geisteskrise. 
Diese  Geisteskrise  ist  ihrerseits  ein  Resultat  des  Kampfes  zweier 
sich  heute  messender  Kräfte:  des  Materialismus  einerseits,  der  sich 
seit  dem  19.  Jahrhundert  in  allen  Richtungen  ausbreitet,  und  der 
Synthese  andrerseits. 

Im  Jahre  1910  schrieb  ich:  «Der  Alpdruck  der  materialistischen  Ideen, 
die  aus  dem  kosmischen  Leben  ein  schlechtes  Spiel  ohne  Ziel  machen, 
ist  noch  nicht  zu  Ende.  Die  groben  Gefühle  wie  die  Furcht,  die 
Freude,  die  Traurigkeit  undsoweiter,  werden  den  Künstler  nicht 
mehr  interessieren.  Er  wird  versuchen,  feinere  und  unaussprech- 
lichere Gefühle  zu  erwecken,  Gefühle  und  Erregungen,  die  tat- 
sächlich so  subtil  sind,  daß  sie  unsere  Sprache  nicht  auszudrücken 
vermöchte.  Jede  Kunst  hat  ihre  Wurzeln  in  ihrer  Zeit,  aber  die  höhere 
Kunst  ist  nicht  nur  ein  Echo  und  ein  Spiegel  dieser  Epoche;  sie  be- 
sitzt zudem  eine  prophetische  Kraft,  die  weit  und  tief  in  die  Zukunft 
reicht.» 

Das  Drama,  dem  wir  seit  einiger  Zeit  beiwohnen,  zwischen  dem 
absterbenden  Materialismus  und  den  Anfängen  einer  Synthese,  die 


152 


versucht,  die  vergessenen  Beziehungen  der  kleinen  Phänomene  unter 
sich  und  die  Beziehungen  zwischen  diesen  und  den  großen  Prinzipien 
wiederzuentdecken,  wird  uns  endgültig  zum  kosmischen  Fühlen 
führen :  «Die  Musik  der  Sphären». 

Der  Weg  der  zeitgenössischen  Wissenschaft  ist  bewußt  oder  un- 
bewußt synthetisch.  Tag  für  Tag  fallen  die  Schranken  zwischen 
scheinbar  verschiedenen  Wissenschaften  etwas  mehr. 
Dieser  Weg  ist  auch  für  die  Kunst  unvermeidlich.  Es  sind  schon 
viele  Jahre  her,  daß  ich  versuchte,  die  Anfänge  einer  Synthese  in  der 
Kunst  sichtbar  zu  machen.  Wenn  uns  eine  tiefere  Prüfung  der  Künste 
zeigt,  daß  jede  einzelne  eigene  Mittel  verwendet,  um  sich  auszudrük- 
ken,  so  zeigt  eine  solche  Prüfung  gleichzeitig  die  Verwandtschaft  auf, 
die  zwischen  allen  Künsten  -  in  dem,  was  ihre  ursprünglichen  Ab- 
sichten betrifft  -  besteht.  Jede  Kunst  besitzt  ihre  persönlichen  Kräfte, 
und  es  ist  unmöglich,  die  Mittel  der  einen  bei  einer  anderen  anzu- 
wenden, auf  eine  andere  zu  übertragen,  beispielsweise  von  der  Ma- 
lerei auf  die  Musik.  Aber  wTenn  man  im  selben  Werk  die  Mittel  ver- 
schiedener Künste  anwendet,  kommt  man  zur  monumentalen  Kunst. 
Man  soll  der  Jugend  nie  «tadellose  Rezepte»  vorlegen  noch  gewalt- 
sam verordnen.  Solche  Rezepte  drängen  ausschließlich  zur  Nach- 
ahmung. Die  Jugend  hat  aber  eine  Erziehung  im  synthetischen 
Sinne  nötig.  Wenn  sie  einmal  dazu  gelangt,  wenn  vorerst  auch  nur 
leise,  die  «Musik  der  Sphären»  zu  hören,  wird  ihr  kein  Rezept  mehr 
gefährlich  werden  können. 

Unter  den  verschiedenen  Stimmen  der  «Musik  der  Sphären»  nimmt 
man  diejenigen  vergangener   Zeiten,   vor  allem  diejenigen  großer 


153 


Epochen,  auf.  Was  die  Jugend  sollte,  ist,  den  Geist  dieser  Epochen 
erforschen.  Ihre  Formen  sollte  sie  beiseitelassen.  Diese  waren  einst 
notwendig  und  unumgänglich,  soweit  sie  Ausdrucksmittel  des  Geistes 
einer  Epoche  waren.  In  den  Händen  der  heutigen  Jugend  sind  sie 
inhaltslos.  Es  gibt  modern  und  «modern».  Der  moderne  Mensch 
(sagen  wir  besser:  der  Mensch  mit  gesundem  Geist)  arbeitet  mit  an 
der  Erschaffung  der  Synthese.  Der  «moderne»  Mensch  aber  bleibt  - 
mangels  Intuition  und  dank  seiner  «Intelligenz»  -  der  Außenseite 
des  Lebens  verbunden.  Er  steht  mit  beiden  Beinen  im  realen  Leben. 
Deshalb  hat  er  den  Kontakt  mit  dem  Leben  verloren.  Von  da  kommt 
seine  Enttäuschung  und  die  Notwendigkeit,  sich  zu  betäuben.  Soll 
sich  der  Künstler  nach  ihm  ausrichten  ? 

Wenn  er  verlangt,  mit  dem  Kopf  zu  «verstehen»,  was  dem  Gefühl 
zugänglich  ist,  muß  er  jeglichen  Sinn  verdrehen.  Wenn  ein  «einfacher» 
Mann  (Arbeiter  oder  Bauer)  sagt:  «Ich  verstehe  nichts  von  dieser 
Kunst,  aber  ich  fühle  mich  wie  in  einer  Kirche»,  so  beweist  er  da- 
durch, daß  sein  Kopf  noch  nicht  in  Unordnung  ist.  Er  versteht  nicht, 
aber  er  empfindet. 

Ein  Arbeiter  sagte  einmal:  «Wir  wollen  keine  spezielle  für  uns  ge- 
machte Kunst,  aber  wir  wollen  eine  wahre,  freie  Kunst,  die  große 
Kunst». 

Für  den  Künstler  gibt  es  tatsächlich  nur  ein  Rezept:  die  Ehrlichkeit. 
Der  Mensch  kann  nicht  auf  die  Umwelt  verzichten,  er  wüßte  nicht 
wie,  aber  er  kann  sich  vom  Gegenstand  befreien.  Das  ist  eine  Frage, 
über  die  mich  weiter  auszulassen,  ich  mir  gestatte,  denn  sie  ist  die 
Hauptfrage  der  Malerei  von  heute  und  morgen. 


154 


Die  Behauptung,  daß  die  Wahl  des  Gegenstandes  keine  Rolle  spiele 
in  der  Malerei  («Der  Gegenstand  betrachtet  als  ein  Vorwand  zum 
Malen»),  basiert  auf  einem  Irrtum.  Ein  weißes  Pferd  oder  eine  weiße 
Gans  rufen  ganz  verschiedene  Erregungen  hervor.  Man  hat  in  diesem 
Fall :  weiß  -f  Pferd,  oder  weiß  +  Gans. 

Das  «isolierte»  Weiß  ruft  eine  Erregung  hervor,  einen  «inneren  Ton». 
Und  so  auch  das  Pferd  und  die  Gans.  Aber  die  beiden  letzteren  Er- 
regungen sind  gänzlich  verschieden.  Weiße  Wolke.  Weißer  Hand- 
schuh. Weiße  Fruchtschale.  Weißer  Schmetterling.  Weißer  Zahn. 
Weiße  Mauer.  Weißer  Stein.  Sie  sehen,  daß  in  jedem  Fall  das 
Weiß  ein  sekundäres  Element  ist.  Es  kann  für  den  Maler  ein  Haupt- 
element sein,  im  Sinne  von  Farbe,  aber  in  allen  diesen  Fällen  ist  es 
seinerseits  gefärbt  vom  «inneren  Ton»  des  Gegenstandes.  Der  Gegen- 
stand spricht  in  allen  Fällen  mit  deutlicher  Stimme,  die  nicht  zu  unter- 
drücken ist.  Es  ist  nicht  zufällig,  daß  die  kubistischen  Maler  mit 
Ausdauer  musikalische  Gegenstände  und  Instrumente  gemalt  haben : 
Guitarre,  Mandoline,  Piano,  Noten  undsoweiter.  Diese  sicher  un- 
bewußt getroffene  Wahl  war  diktiert  durch  die  Annäherung  von  Musik 
und  Malerei. 

Es  ist  ebenfalls  nicht  zufällig,  wenn  man  zur  selben  Zeit  anfing,  Aus- 
drücke wie  «malerisch»  für  ein  Musikwerk  und  «musikalisch»  für  ein 
Werk  der  Malerei  zu  verwenden. 

Es  ist  ein  Irrtum,  zu  behaupten,  daß  ein  einziger  Ton  oder  eine 
einzige  Farbe  keine  Erregung  hervorrufe.  Aber  diese  Erregungen 
sind  zu  begrenzt  oder  zu  «einfach»,  oder  zu  «arm»,  und  schließlich 
auch  zu  vorübergehend. 


155 


Das  ist  eine  statische  Tatsache.  Das  dynamische  Moment  beginnt  mit 
dem  Nebeneinandersetzen  von  mindestens  zwei  Erregungen:  Ele- 
menten, Farben,  Linien,  Tönen,  Bewegungen  undsoweiter.  (Der 
«Kontrast»!)  «Zwei  innere  Töne.»  Hier  ist  die  kleine  Wurzel  der 
Komposition  zu  suchen. 

Die  Frage  ist  in  der  Malerei  komplizierter  als  in  der  Musik.  In  der 
Musik  ist  der  reine  Ton  (hervorgerufen  durch  Elektrizität),  das 
heißt  der  durch  kein  bestimmtes  Instrument  gefärbte  Ton,  und 
selbst  der  durch  ein  bestimmtes  Instrument  (Piano,  Hörn,  Violine) 
gefärbte,  durch  sich  selbst  «begrenzt».  Der  selbe  Ton  kann  stark 
oder  schwach  sein,  lang  oder  kurz,  aber  er  verlangt  keine  Grenzen  wie 
die  Farbe  auf  einer  Fläche. 

Wenn  es  nicht  die  «inneren  Töne»  des  Gegenstandes  gäbe,  würde  die 
Frage  der  abstrakten  Begrenzungen  oder  der  durch  einen  Gegenstand 
gegebenen  Grenzen  nicht  existieren.  Meiner  Ansicht  nach  läßt  die 
geometrische  Begrenzung  der  Farbe  eine  größere  Möglichkeit,  eine 
reine  Vibration  hervorzurufen,  als  die  Grenzen  eines  beliebigen 
Gegenstandes,  die  immer  viel  aufdringlicher  und  beengender  reden, 
dadurch  daß  sie  eine  ihnen  eigene  Erregung  hervorrufen  (Pferd, 
Gans,  Wolke  .  .  .).  Die  «geometrischen»  oder  «freien»  Grenzen,  die 
nicht  an  einen  Gegenstand  gebunden  sind,  rufen,  wie  die  Farben, 
Erregungen  hervor,  die  aber  weniger  präzis  festgelegt  sind  als  die- 
jenigen eines  Gegenstandes.  Sie  sind  freier,  elastischer,  «abstrakter». 
Diese  abstrakte  Form  hat  weder  einen  Bauch  wie  das  Pferd  noch 
einen  Schnabel  wie  die  Gans.  Wenn  sie  ihrer  plastischen  Idee  einen 
Gegenstand  unterordnen  wollen,  müssen  sie  im  allgemeinen  dessen 


156 


natürliche  Grenzen  ändern  und  beschränken.  Um  ein  Pferd  zu  ver- 
längern, müssen  sie  es  am  Kopf  oder  Schwanz  ziehen.  Das  ist,  was 
ich  früher  machte,  bevor  ich  in  mir  die  Möglichkeit  fand,  mich  vom 
Gegenstand  zu  befreien. 

Aber  wie  ein  Musiker  seine  Empfindungen  vom  Sonnenaufgang 
wiedergeben  kann,  ohne  die  Töne  eines  krähenden  Hahnes  zu  ver- 
wenden, so  hat  der  Maler  rein  malerische  Mittel,  um  seine  Eindrücke 
des  Morgens  «einzukleiden»,  ohne  daß  er  einen  Hahn  malen  muß. 
Dieser  Morgen,  oder  sagen  wir  die  ganze  Natur,  das  Leben  und  die 
ganze  den  Künstler  umgebende  Welt,  sowie  das  Leben  seiner  Seele, 
sind  die  einzige  Quelle  jeder  Kunst.  Es  ist  zu  gefährlich,  den  einen 
Teil  (das  äußere,  um  den  Künstler  herum  existierende  Leben)  oder 
den  andern  Teil  dieser  Quelle  (das  innere  Leben)  zu  unterdrücken. 
Ja  es  ist  gefährlicher,  als  einem  Menschen  ein  Bein  abzunehmen, 
weil  dieses  durch  ein  Holzbein  ersetzt  werden  kann.  Hier  aber 
schneidet  man  mehr  ab  als  das  Bein.  Man  beschneidet  das  Leben  an 
seiner  eigenen  Schöpfungskraft.  Der  Maler  «ernährt»  sich  von 
äußeren  Eindrücken  (äußeres  Leben).  Er  wandelt  sie  um  in  seiner 
Seele  (inneres  Leben).  Die  Wirklichkeit  und  der  Traum  -  ohne  es 
zu  wissen.  Das  Resultat  ist  ein  Werk. 

Das  ist  das  allgemeine  Gesetz  der  Schöpfung.  Die  Unterschiede 
zeigen  sich  nur  in  den  Ausdrucksmitteln  (inneres  Leben)  der  «Er- 
zählung» -  ob  mit  oder  ohne  Hahn. 

Im  allgemeinen  haben  alle  Künstler  (nicht  die  «Künstler»)  den  ersten 
Teil  der  Quelle  gemeinsam  (die  Erregung  des  äußeren  Lebens). 
(Es  gibt  aber  keine  Regel  ohne  Ausnahme,  wohlverstanden!)  Sie 


157 


unterscheiden  sich  im  zweiten  Teil  (inneres  Leben)  und  dann  in  den 
Ausdrucksweisen.  Warum  denn  also  rufe  ich,  ich  als  «abstrakter» 
Maler :  «Es  lebe  der  Hahn ! »  -  und  die  Gegenpartei :  «Tod  dem  Dreieck ! »  ? 
Wie  es  schon  ziemlich  lange  eine  Musik  mit  Worten  gibt  (ich  spreche 
allgemein),  das  Lied  und  die  Oper,  und  eine  Musik  ohne  Worte,  die 
rein  sinfonische  Musik  oder  die  «reine»  Musik,  so  gibt  es  gleichfalls, 
seit  25  Jahren,  eine  Malerei  mit  und  ohne  Gegenstand. 
Meiner  Ansicht  nach  legt  man  der  Formfrage  zuviel  Bedeutung  bei. 
Ich  habe  vor  bald  25  Jahren  geschrieben:  «Im  Prinzip  gibt  es  keine 
Formfrage»  (Der  Blaue  Reiter).  Die  Frage  der  Form  ist  immer  per- 
sönlich, also  relativ.  Der  Mensch  ist  -  wohlverstanden  -  der  Ver- 
gangenheit, der  Gegenwart  und  der  Zukunft  verbunden.  Nur  einige 
«Konstruktivisten»  haben  proklamiert,  «daß  es  weder  ein  Gestern,  noch 
ein  Morgen  gäbe,  sondern  nur  das  Heute».  Meinetwegen! 
Und  es  ist  nicht  die  Form,  welche  die  natürliche  Beziehung  mit  der 
Vergangenheit  begründet,  sondern  die  innere  Verwandtschaft  ge- 
wisser vergangener  Epochen. 

Ein  Dreieck  ruft  eine  lebhafte  Erregung  hervor,  weil  es  selbst  ein 
lebendiges  Wesen  ist.  Es  ist  der  Künstler,  der  es  tötet,  nämlich  dann, 
wenn  er  es  mechanisch,  ohne  inneres  Diktat  verwendet.  Es  ist  derselbe 
Künstler,  der  auch  den  Hahn  tötet.  Aber  so  wenig  wie  eine  «isolierte» 
Farbe,  so  wenig  genügt  auch  ein  «isoliertes»  Dreieck  nicht  für  ein 
Kunstwerk.  Das  Gesetz  des  «Kontrastes»!  Man  vergesse  dennoch 
nicht  die  Kraft  dieses  bescheidenen  Dreiecks.  Es  ist  bekannt,  daß 
wenn  man  auf  ein  Blatt  weißes  Papier  ein  Dreieck  zeichnet  -  selbst 
mit  sehr  feinen  Linien  -,  das  Weiß  außerhalb  des  Dreiecks  sich  gegen- 


158 


über  dem  Weiß  innerhalb  des  Dreiecks  verändert.  Die  beiden  Weiß 
erhalten  verschiedene  Farben,  ohne  daß  man  dazu  Farbe  verwendet. 
Das  ist  gleichzeitig  eine  physikalische  und  eine  psychologische  Tat- 
sache. Und  mit  dieser  Farbänderung  ändert  sich  auch  der«  innere  Ton». 
Wenn  sie  jetzt  noch  eine  Farbe  zu  diesem  Dreieck  hinzufügen,  ver- 
mehrt sich  die  Summe  der  Erregungen  in  einer  geometrischen  Pro- 
portion. Es  ist  keine  Addition  mehr,  sondern  eine  Multiplikation. 
Ich  habe  einmal  ein  Bild  gemalt,  das  aus  einem  einzigen  roten  Dreieck 
komponiert  war  und  das,  sehr  bescheiden,  von  Farben  ohne  «Gren- 
zen» (sehr  ungenauen  Formen)  umgeben  war,  und  ich  habe  oft  be- 
merkt, daß  diese  «ärmliche»  Komposition  etwas  hervorruft  beim 
Betrachter,  der  «die  avantgardistische  Malerei  nicht  versteht».  Ohne 
Zweifel  genügten  mir  diese  sehr  begrenzten  Mittel  nicht  immer,  und 
ich  liebe  auch  die  Kompositionen,  die  recht  kompliziert  und  «reich» 
sind.  Das  hängt  vom  Ziel  der  gegebenen  Komposition  ab. 
Um  Mißverständnisse  zu  vermeiden,  füge  ich  bei,  daß  meiner  An- 
sicht nach,  der  Maler  sich  wegen  dieses  Ziels  nie  beunruhigt,  oder, 
um  es  besser  auszudrücken,  er  kennt  es  nicht,  wenn  er  ein  Bild  macht. 
Sein  Interesse  ist  ganz  der  Form  zugewendet.  Das  Ziel  bleibt  im 
Unterbewußten  und  führt  die  Hand.  Indem  der  Maler  ein  Bild  macht, 
«hört»  er  immer  «eine  Stimme»,  die  ihm  einfach  «richtig»  oder  «falsch» 
sagt.  Wenn  die  Stimme  zu  undeutlich  wird,  muß  der  Maler  seine 
Pinsel  auf  die  Seite  legen  und  warten. 

Von  diesem  allgemeinen  Gesetz  der  Gleichheit  der  Quelle  jeder 
Kunst  (um  mich  und  in  mir)  gibt  es  eine  Ausnahme,  die  Mißver- 
ständnisse  und   verderbliche    «Vermengungen»   hervorgerufen   hat. 


159 


Ich  spreche  von  den  «Konstruktivisten»,  deren  Mehrheit  behauptet, 
daß  die  impressionistischen  Erregungen,  die  der  Künstler  von  außen 
empfängt,  nicht  nur  unnütz  seien,  sondern  bekämpft  werden  müßten. 
Sie  sind,  nach  diesen  Künstlern,  «Reste  der  bürgerlichen  Sentimen- 
talität» und  müssen  ersetzt  werden  durch  die  reine  Absicht  des  mechani- 
schen Prozesses.  Sie  versuchen  «errechnete  Konstruktionen»  zu 
machen  und  wollen  das  Gefühl  unterdrücken,  nicht  nur  bei  sich 
selbst,  sondern  auch  beim  Betrachter,  um  ihn  von  der  bürgerlichen 
Psychologie  zu  befreien,  um  aus  ihm  einen  «Menschen  der  Wirklich- 
keit» zu  machen. 

Diese  Künstler  sind  in  Wahrheit  Mechaniker  (also  geistig  begrenzte 
Kinder  «unseres  Jahrhunderts  der  Maschine»),  die  jedoch  Mechanis- 
men produzieren,  die  sich  nicht  bewegen:  Lokomotiven,  die  sich 
nicht  rühren,  und  Flugzeuge,  die  nicht  fliegen.  Das  ist  «L'art  pour 
Fart»,  aber  zur  letzten  Grenze  getrieben  und  sogar  darüber  hinaus. 
Das  ist  auch  der  Grund,  weshalb  der  größte  Teil  der  «Konstrukti- 
visten» sehr  bald  aufgehört  hat  zu  malen.  (Einer  von  ihnen  hat 
proklamiert,  daß  die  Malerei  nur  die  Brücke  zur  Architektur  sei.  Er 
hat  vergessen,  daß  es  extreme  avantgardistische  Architekten  gibt,  die 
nicht  aufhören,  gleichzeitig  zu  malen.)  Wenn  der  Mensch  beginnt, 
Dinge  zu  machen  ohne  Ziel,  so  endet  er  durch  Selbstzerfall  (innerlich 
wenigstens)  oder  produziert  zum  Tod  verurteilte  Dinge. 
Schließlich  ist  das  der  Grund  dafür,  wenn  ein  «abstrakter»  Maler 
dem  gemeinsamen  Gesetz  der  Kunst  unterstehen  kann  (der  gemein- 
samen und  einzigen  Quelle)  oder  er  eine  Ausnahme  machen  will. 
Es  ist  ein  Fehler  unserer  «Terminologie»,  nicht  zu  unterscheiden 


160 


zwischen  diesen  beiden  Arten  «abstrakter»  Künstler.  Man  sollte, 
da  es  unmöglich  ist,  Etiketten  zu  vermeiden  (die  bequem  sind,  um 
sich  zu  verständigen,  und  verderblich,  wenn  man  nicht  sondiert,  was 
hinter  ihnen  verborgen  ist)  eine  exaktere  Terminologie  konstruieren 
und  nicht  die  Tatsachen  «klassieren»  nach  ihren  äußeren  Erschei- 
nungen, sondern  nach  der  inneren  Verwandtschaft.  In  diesem  Fall 
sollte  man  zwei  Etiketten  machen  statt  einer  und  sie  voneinander 
unterscheiden.  Hier  sind  sie : 

1.  Abstrakter  Künstler. 

2.  Konstruktivistischer  Künstler  (oder,  wenn  man  will,  «zielloser» 
Künstler). 

Wenn  ein  Künstler  «abstrakte»  Mittel  anwendet,  so  heißt  das  noch 
nicht,  daß  er  ein  «abstrakter»  Künstler  sei.  Das  heißt  sogar  nicht  ein- 
mal, daß  er  ein  Künstler  sei.  Und,  wie  es  genügend  tote  Dreiecke 
gibt  (seien  sie  weiß  oder  grün),  so  gibt  es  nicht  weniger  tote  Hähne, 
tote  Pferde  und  tote  Guitarren.  Man  kann  ebenso  leicht  ein  «realisti- 
scher Pompier»  wie  ein  «abstrakter  Pompier»  sein. 
Die  Form  ohne  Inhalt  ist  nicht  eine  Hand,  sondern  ein  leerer  Hand- 
schuh, gefüllt  mit  Luft. 

Der  Künstler  liebt  die  Form  leidenschaftlich,  wie  er  seine  Instrumente 
liebt  oder  den  Geruch  des  Terpentins,  weil  diese  mächtige  Mittel 
sind  im  Dienste  des  Ausdrucks. 

Aber  dieser  Inhalt  ist  nicht,  wohlverstanden,  eine  literarische  Er- 
zählung (die,  allgemein,  Teil  eines  Bildes  sein  kann  oder  auch  nicht), 
sondern  die  Summe  der  Erregungen,  die  durch  die  rein  malerischen 
Mittel  hervorgerufen  werden. 


161 


(Ein  Mittel,  um  sie  zu  erkennen :  wenn  die  literarische  Erzählung  die 
malerischen  Mittel  überwiegt,  läßt  einen  eine  Schwarzweiß-Repro- 
duktion nicht  schmerzlich  das  Fehlen  der  Farbe  vermissen.  Wenn 
aber,  im  Gegensatz  dazu,  der  Inhalt  rein  malerisch  ist,  so  ist  dieser 
Mangel  eben  schmerzhaft.) 

Schließlich  entstammt  die  Kunst  nie  nur  dem  Kopf  allein.  Wir 
kennen  große  Malerei,  die  einzig  dem  Herzen  entsprungen  ist.  Im 
allgemeinen  ist  das  ideale  Gleichgewicht  zwischen  Kopf  (Bewußtseins- 
Moment)  und  Herz  (Unbewußtseins-Moment,  Intuition)  ein  Gesetz 
der  Schöpfung,  ein  Gesetz  so  alt  wie  die  Menschheit. 


162 


\A 


Linie  und  Fisch 


«Linie  und  Fisch»  ist  in  der  Zeitschrift  Axis  No  2/1935  in  London 
erschienen.  Hier  zeigt  Kandinsky,  daß  ein  Fisch  und  eine  Linie, 
das  heißt  jeder  einzelne  «Gegenstand»  für  sich,  seine  eigene  Reali- 
tät besitzt. 


Einerseits  sehe  ich  keinen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  einer 
sogenannten  «abstrakten»  Linie  und  einem  Fisch. 
Aber  eine  wesentliche  Ähnlichkeit. 

Diese  isolierte  Linie  wie  auch  der  isolierte  Fisch  sind  lebendige 
Wesen  mit  ihnen  eigenen  Kräften  -  verborgenen  Kräften.  Es  sind 
Kräfte  des  Ausdrucks  für  diese  Wesen  und  Kräfte  des  Eindrucks  für 
die  menschlichen  Wesen.  Weil  jedes  Wesen  ein  beeindruckendes 
«Gesicht»  hat,  das  sich  durch  seinen  Ausdruck  manifestiert.  Aber  die 
Stimme  dieser  verborgenen  Kräfte  ist  schwach  und  begrenzt. 
Es  ist  die  Umgebung  der  Linie  und  des  Fisches,  die  das  Wunder 
zustandebringt,  daß  die  verborgenen  Kräfte  erwachen,  der  Ausdruck 
strahlend  wird  und  der  Eindruck  tief.  Statt  einer  schwachen  Stimme 
hört  man  einen  Chor.  Die  verborgenen  Kräfte  sind  dynamisch  ge- 
worden. 

Die  Umgebung  ist  die  Komposition. 

Die  Komposition  ist  die  organisierte  Summe  von  inneren  Funk- 
tionen (Ausdrücken)  aller  Teile  des  Werkes. 

Aber  von  einer  anderen  Seite  gesehen,  wird  der  Unterschied  zwischen 
der  Linie  und  dem  Fisch  wesentlich.  Es  ist  der,  daß  der  Fisch  schwim- 
men, essen  und  gegessen  werden  kann.  Er  besitzt  also  Fähigkeiten, 
von  denen  die  Linie  ausgeschlossen  ist. 


164 


Aber  diese  Fähigkeiten  des  Fisches  sind  notwendige  Zugaben  für  den 
Fisch  selbst  wie  für  die  Küche,  nicht  jedoch  für  die  Malerei.  Und 
da  sie  nicht  notwendig  sind,  sind  sie  überflüssig. 

Das  ist  der  Grund,  warum  ich  die  Linie  dem  Fisch  vorziehe  -  wenig- 
stens in  meiner  Malerei. 


165 


I* 


<\ 


Leere  Leinwand  undsoweiter 


Kandinsky  war  1933  von  Berlin  nach  Neuilly  s/Scinc  bei  Paris 
übergesiedelt  und  hatte  1934  eine  Ausstellung  in  der  Galeric 
Cahiers d'  Art  -  seine  erste  Ausstellung  in  Paris  1 
In  No  5/1935  von  Cahiers  d'Art,  Paris,  erschien  nach  dem  langen 
Exkurs,  der  in  No  1-4  abgedruckt  war,  eine  fast  poetische  Deu- 
tung der  Elemente,  die  Kandinsky  als  Grundlage  für  seine  Malerei 
gewählt  hatte.  Der  nun  fast  Siebzigjährige  war  in  Paris  heimisch 
geworden. 


Leere  Leinwand.  Scheinbar:  wirklich  leer,  schweigend,  indifferent. 
Fast  stumpfsinnig.  Tatsächlich:  voll  Spannungen  mit  tausend  leisen 
Stimmen,  erwartungsvoll.  Etwas  erschrocken,  da  sie  vergewaltigt 
werden  kann.  Aber  fügsam.  Sie  tut  gern,  was  man  von  ihr  verlangt, 
bittet  nur  um  Gnade.  Sie  kann  alles  tragen,  aber  nicht  alles  ver- 
tragen -  sie  verstärkt  das  Richtige,  aber  auch  das  Falsche.  Und  dem 
Falschen  verzehrt  sie  unbarmherzig  das  Gesicht.  Sie  verstärkt  die 
falsche  Stimme  zum  grellenden  Gebrüll  -  unmöglich  zu  ertragen. 
Wunderbar  ist  die  leere  Leinwand  -  schöner  als  manche  Bilder. 
Einfachste  Elemente.  Gerade  Linie,  gerade  schmale  Fläche:  hart,  un- 
entwegt, sich  rücksichtslos  behauptend,  scheinbar  «selbstverständ- 
lich» -  wie  das  bereits  erlebte  Schicksal.  So  und  nicht  anders.  Ge- 
bogene, «freie»:  vibrierend,  ausweichend,  nachgebend,  «elastisch», 
scheinbar  «unbestimmt»  -  wie  das  uns  erwartende  Schicksal.  Es  könnte 
anders  werden,  wird  aber  nicht. 

Hartes  und  Weiches.  Die  Kombinationen  von  beiden  -  unendliche 
Möglichkeiten. 
Jede  Linie  sagt  «ich  bin  da!»  Sie  behauptet  sich,  zeigt  ihr  sprechendes 


167 


Gesicht  -  «horcht!  Horcht  auf  mein  Geheimnis!».  Wunderbar  ist 
eine  Linie. 

Ein  kleiner  Punkt.  Viele  kleine  Pünktchen,  die  hier  noch  etwas, 
etwas  kleiner  sind  und  dort  etwas,  etwas  größer.  Alle  haben  sie  sich 
hineingebohrt,  bleiben  aber  beweglich  -  viele  kleine  Spannungen, 
die  im  Chor  ständig  wiederholen  «horcht!  horcht!».  Kleine  Mittei- 
lungen, die  sich  im  Chor  verstärken  -  zum  großen  «ja». 
Schwarzer  Kreis  -  entfernter  Donner,  eine  Welt  für  sich,  die  sich 
scheinbar   um   nichts   kümmert,   ein    Sich-Insich-Hineinziehen,   ein 
Abschluß  auf  der  Stelle.  Ein  langsam  kühlgesagtes  «Ich  bin  da». 
Roter  Kreis  -  sitzt  fest,  behauptet  seine  Stelle,  ist  in  sich  vertieft. 
Aber  gleichzeitig  wandert  er,  da  er  alle  übrigen  Stellen  für  sich  haben 
möchte  -  so  strahlt  er  über  alle  Hindernisse  bis  in  die  weiteste  Ecke. 
Blitz  und  Donner  zusammen.  Leidenschaftliches  «Ich  bin  da!» 
Wunderbar  ist  der  Kreis. 

Das  Wunderbarste  ist  aber:  alle  diese  Stimmen  mit  noch  vielen, 
vielen  andern  (es  gibt  tatsächlich  viel  Formen  und  Farben)  zu  einer 
einzigen  zu  summieren  -  das  ganze  Gemälde  ist  zu  einem  einzigen 
«Ich  bin  da»  geworden. 

Beschränkung,  «Geiz»,  toller  Reichtum,  «Verschwendung»,  Donner- 
knall, Mückengesumm.  Alles,was  dazwischen  liegt.  Jahrtausendewaren 
eine  knappe  Zeitspanne  um  bis  an  den  Boden,  an  die  letzte  Grenze 
der  Möglichkeiten  zu  kommen.  Der  Boden  ist  überhaupt  nicht  da. 
Seit  bald  25  Jahren  unterhalte  ich  mich  mit  diesen  «abstrakten» 
Dingen.  Schon  vor  dem  Krieg  habe  ich  den  Donnerknall  und  das 
Mückengesumm  geliebt  und  verwendet.  Die  Stimmgabel  war  aber 


168 


«Dramatik».  Explosionen,  zusammenprallende  Flecke,  verzweifelte 
Linien,  Ausbruch,  Dröhnen,  Auseinanderfliegen  -  Katastrophen. 
Die  sämtlichen  Elemente,  die  Konstruktion  und  selbst  die  technische 
Art  bis  zum  einzelnen  Pinselstrich  waren  diesem  Zweck  «Dramatik» 
unterordnet.  Verlorenes  Gleichgewicht,  aber  kein  Untergang.  Überall 
Vorahnung  des  Auferstehens  -  bis  zur  kühlen  Ruhe. 
Von  Anfang  1914  stieg  in  mir  der  Wunsch  der  «kühlen  Ruhe»  - 
Starres  wollte  ich  nicht,  aber  Kühles,  sehr  Kühles.  Manchmal  Eis- 
kaltes. Sozusagen  umgekehrte  chinesische  Kuchen,  die  glühendheiß 
sind  und  innen  Gefrorenes  verstecken.  Umgekehrtes  wollte  ich  (und 
habe  es  noch  heute  so  gern!)  -  in  eiskalter  Hülse  glühend  heiße  «Fül- 
lung». 

Verschleierung.  Es  gibt  übertausende  von  Verschleierungen.  Schon 
1910  habe  ich  die  «dramatische  Komposition»  durch  «liebenswürdige» 
Farben  verschleiert.  Das  geschieht  unbewußt,  daß  man  einem  «bit- 
teren» Knall  etwas  «Süßes»  gegenüber  stellt,  dem  «Heiß»  etwas 
«Kühles»,  in  das  «Positive»  etwas  «Negatives»  hineintropft. 
In  meiner  «kalten»  Periode  bremste  ich  nicht  selten  glühende  Farben 
durch  harte,  kühle,  «nichtssagende»  Formen.  Es  fließt  manchmal 
unter  dem  Eis  kochendes  Wasser  -  die  Natur  «arbeitet»  mit  Gegen- 
sätzen, ohne  die  sie  flach  und  tot  wäre.  Ebenso  die  Kunst,  die  nicht 
nur  der  Natur  verwandt  ist,  sondern  sich  ihren  Gesetzen  mit  Freude 
fügt.  Sich  diesen  Gesetzen  zu  fügen,  ihre  weise  Weisung  zu  erraten  - 
ist  die  größte  Freude  des  Künstlers. 

Sich  fügen  heißt  Rücksicht  zu  nehmen.  Jeder  neue  Farbfleck,  der 
in  der  Arbeit  auf  die  Leinwand  kommt,  fügt  sich  den  früheren  - 


169 


auch  in  seinem  Widerspruch  ist  er  ein  neues  Steinchen  zum  großen 
Aufbau  des  «Ich  bin  da». 

Man  wird  eigentlich  viel  mehr  «mißverstanden»  als  «verstanden». 
Dies  habe  ich  oft  erlebt,  aber  nie  so  deutlich  als  zu  meiner  «kalten» 
Periode,  zu  der  auch  mancher  Freund  mir  den  Rücken  zeigte.  Ich 
wußte  aber,  daß  das  Eis  (nicht  meiner  Bilder,  sondern  das  des  Miß- 
verstehens) einmal  schmelzen  würde.  Vielleicht  ist  es  heute  schon 
etwas  geschmolzen.  Die  Zeit  reißt  die  Menschen  mit.  Was  aber  zu 
schnell  wächst,  vertrocknet  noch  schneller  -  ohne  Tiefe  gibt  es 
keine  Höhe. 

Nach  diesem  Sprung  (der  bei  mir  durch  die  Zeitlupe  zu  sehen  ist) 
aus  einer  «Extravaganz»  in  die  andre  veränderte  sich  wieder  mein 
«Wunsch»,  das  heißt  der  Sinn  der  inneren  Kraft,  die  mich  nach 
vorwärts  stößt.  Was  ich  aber  heute  wünsche,  ist  nicht  so  einfach 
darzulegen,  wie  es  mit  den  früheren  Wünschen  der  Fall  war  (wenn  er 
es  war). 

Eigentlich  verändert  man  sich  nicht.  Das  heißt  die  Veränderung  ist 
im  Glücksfalle  die,  dass  man  immer  besser  lernt,  gleichzeitig  hinauf- 
und  herunterzusteigen  -  gleichzeitig  nach  «oben»  (in  die  «Höhe») 
und  nach  «unten»  (in  die  «Tiefe»).  Dieses  Können  hat  immer  be- 
stimmt zur  natürlichen  Folge  das  Sichausbreiten,  eine  feierliche  Ruhe. 
Man  wächst  zu  allen  Seiten. 

Jedenfalls  ist  mein  Wunsch  heute  «breiter!  breiter!»  Polyphonie  wie 
es  der  Musiker  sagt.  Gleichzeitig:  Verbindung  von  «Märchen»  und 
«Realität».  Nicht  die  äußere  Realität  -  Hund,  Schüssel,  entblößte 
Frau  -  sondern  die  «materielle»  Realität  der  malerischen  Mittel,  der 


170 


«Werkzeuge».  Diese  Realität  verlangt  die  vollkommene  Umänderung 
der  Ausdrucksmittel,  wozu  auch  die  technischen  Mittel  gehören.  Ein 
Bild  ist  restlose  Einheitlichkeit  der  sämtlichen  Mittel.  Nicht  das 
Märchen  von  «Siebenmeilenstiefeln»  oder  vom  «Dornröschen»  und 
nicht  «gegenständliche»  Phantastik  brauche  ich,  sondern  das  rein 
malerische  Märchen,  das  nur  und  ausschließlich  die  Malerei  allein 
«erzählen»  kann  -  durch  ihre  «Realität».  Inneres  Zusammenhalten 
durch  äußres  Auseinandergehen,  Verbinden  durch  Auflösen  und 
Zerreißen.  In  Unruhe  Ruhe,  in  Ruhe  Unruhe.  Der  «Vorgang»  im 
Bilde  soll  nicht  auf  der  Leinwandfläche  vorsichgehen,  sondern 
«irgendwo»,  im  «illusorischen»  Raum.  Aus  der  «Unwahrheit»  (Ab- 
straktion!) soll  Wahrheit  sprechen.  Kerngesunde  Wahrheit,  die 
«Ich  bin  da»  heißt. 

Ich  sehe  aus  meinem  Fenster.  Manche  kalte  Fabrikschornsteine 
stehen  schweigend  da.  Sie  sind  unbiegsam.  Ganz  plötzlich  steigt  aus 
einem  einzigen  Schornstein  der  Rauch.  Der  Wind  biegt  ihn  und  er 
ändert  jeden  Augenblick  seine  Farbe.  Die  ganze  Welt  hat  sich  ver- 
ändert. 


171 


Abstrakte  Malerei 


Für  die  Kronick  van  Hedendaagse  Kunst  en  Ku/tuur,  Amsterdam, 
schrieb  Kandinsky  1935  eine  längere  Abhandlung  über  «Ab- 
strakte Malerei».  Interessant  ist  hier  vor  allem,  daß  sich  Kandinsky 
mit  der  Klassierung  der  sogenannten  «abstrakten»  Kunst  befaßt, 
daß  er  Ausdrücke  wie  «gegenstandlos»,  «abstrakt»,  «absolut» 
schon  ablehnt  und  vorschlägt,  diese  durch  «reale  Kunst»  zu  er- 
setzen. Bemerkenswert  ist  auch,  daß  er  sich  hier  mit  den  «Ismen» 
auseinanderzusetzen  sucht.  Es  scheinen  ihm  diese  Probleme  vor 
allem  auch  auf  Grund  der  Ignoranz  des  Pariser  Kunstbetriebes 
klar  geworden  zu  sein.  Die  französischen  Zitate  aus  Cahiers  cT  Art 
sind  im  vorangehenden  Text  enthalten :  «Die  Kunst  von  heute  ist 
lebendiger  denn  je». 


Der  Ausdruck  «Abstrakte  Kunst»  ist  nicht  beliebt.  Und  das  mit 
Recht,  da  er  wenig  sagend  ist,  oder  mindestens  verwirrend  wirkt. 
Deshalb  versuchten  die  Pariser  abstrakten  Maler  und  Bildhauer  einen 
neuen  Ausdruck  zu  schaffen :  sie  sagen  «art  nonfiguratif». 
Gleichbedeutend  mit  dem  deutschen  Ausdruck  «gegenstandslose 
Kunst».  Die  Negationsteile  dieser  Worte  («non»  und  «los»)  sind  nicht 
geschickt:  sie  streichen  den  «Gegenstand»  und  stellen  nichts  an  seine 
Stelle.  Schon  seit  längerer  Zeit  versuchte  man  (was  auch  ich  noch  vor 
dem  Krieg  tat)  das  «abstrakt»  durch  «absolut»  zu  ersetzen.  Eigentlich 
kaum  besser.  Der  beste  Name  wäre  meiner  Meinung  nach  «reale 
Kunst»,  da  diese  Kunst  neben  die  äußere  Welt  eine  neue  Kunstwelt 
stellt,  geistiger  Natur.  Eine  Welt,  die  ausschließlich  durch  Kunst  ent- 
stehen kann.  Eine  reale  Welt.  Die  alte  Bezeichnung  «abstrakte  Kunst» 
hat  sich  aber  bereits  eingebürgert. 

Meiner  Meinung  nach  sind  die  Bezeichnungen  «Impressionismus» 
oder  «Kubismus»  nicht  mehrsagend  und  ebenso  oft  verwirrend.  Sie 


172 


sind  aber  bereits  historisch  geworden,  gehören  zu  anerkannter  Klassi- 
fizierung und  damit  zu  unantastbaren  Erscheinungen. 
Es  ist  eigenartig,  daß  der  Kubismus  ebenso  alt  (oder  jung)  wie  die 
abstrakte  Malerei  ist  und  trotzdem  bereits  «historisch»  und  unan- 
tastbar wurde.  Weder  sein  Wesen  noch  sein  Name  werden  heute  be- 
kämpft. Besonders  ein  «fortschrittlicher»  Kunsttheoretiker  würde  nie 
den  Mut  aufweisen,  ihn  zu  überfallen.  Es  ist  vielleicht  deshalb,  weil 
der  Kubismus  in  seiner  reinsten  Form  von  kurzer  Dauer  war  und 
sich  sehr  schnell  erschöpfte,  und  «de  mortuis  aut  bene  aut  nihil». 
Wie  oft  versuchte  man  auch  die  abstrakte  Malerei  zu  begraben  und 
wie  oft  wurde  ihr  endgültiger  Tod  prophezeit.  Zum  Entsetzen  dieser 
Propheten  gibt  es  heute  eine  neue  abstrakte  Generation  in  vielen 
Ländern.  Ich  erlaube  mir  dabei  zu  erwähnen,  daß  ich  mein  erstes 
abstraktes  Bild  1911  malte,  also  vor  24  Jahren.  Es  war  auch  ungefähr 
das  Geburtsjahr  des  Kubismus.  Diese  Zeit  war  der  Anfang  vieler 
«Explosionen»  in  der  Kunst  -  denken  Sie  bitte  an  die  unzähligen 
«Ismen»,  die  meist  sehr  bald  verschwanden  und  vergessen  wurden 
(Dadaismus,  Purismus,  Expressionismus,  Suprematismus,  Maschi- 
nismus und  noch  viele,  viele  andre).  Die  andren  sind,  wie  gesagt, 
katalogisiert  worden. 

So  ist  die  abstrakte  Malerei  eine  lebende,  lebensvolle  Erscheinung, 
die  der  Klassifizierung  und  der  Katalogisierung  entging  -  glück- 
licherweise. 

Die  immer  noch  nicht  aufhörende  (manchmal  haßerfüllte)  Bekämp- 
fung dieser  Kunst  ist  der  beste  Beweis  ihrer  Lebenskraft  und  Bedeu- 
tung. Ich  bin  sicher,  daß  diese  Lebenskraft  und  Bedeutung  ihrerseits 


173 


die  besten  Beweise  dafür  sind,  daß  die  abstrakte  Kunst  nicht  nur  die 
der  Gegenwart,  sondern  auch  die  der  Zukunft  ist.  Vielleicht  mehr  die 
der  Zukunft  als  die  der  Gegenwart.  In  der  Gegenwart  ist  die  größte 
Masse  der  Menschen  äußerst  materialistisch  und  formalistisch.  Und 
deshalb  rückständig.  Die  rückständigen  Menschen  besitzen  kein 
Organ  für  die  geistige  Zukunft.  So  bleibt  ihnen  nichts  übrig  als  sich 
an  die  Vergangenheit  festzuklammern.  Der  ewige  Irrtum  solcher 
Menschen  ist  der,  daß  sie  sich  einbilden,  dem  Geist  der  Vergangenheit 
treu  zu  bleiben,  indem  sie  nicht  dem  Geist,  sondern  der  Form  treu 
bleiben.  Von  hier  der  Irrschluß:  es  hat  bis  jetzt  keine  abstrakte  Form 
in  der  Kunst  gegeben,  so  kann  es  auch  keine  in  der  Zukunft  geben. 
Das  ist  der  berühmte  «historische»  Beweis  gegen  die  abstrakte  Kunst. 
Ebenso  wurde  auch  seinerzeit  «bewiesen»,  daß  es  keine  Flugzeuge 
geben  kann.  Wenn  man  auf  solche  Propheten  hören  würde,  lebte 
noch  heute  die  Menschheit  in  Steinhöhlen. 

Außer  dem  «historischen  Beweis»  gibt  es  auch  manche  andre,  die  zum 
Zweck  haben,  die  Möglichkeit  der  abstrakten  Kunst  zu  widerlegen. 
Ich  will  sie  nennen. 

Manche  (wirklich  ganz  naive)  «Theoretiker»  behaupten,  es  gäbe 
keinen  «Qualitätsmesser»  für  die  abstrakte  Kunst,  das  heißt  es  gäbe 
keine  Mittel,  gute  abstrakte  Kunst  von  der  schlechten  zu  unterschei- 
den. Diese  Behauptung  stimmt.  Nur  stimmt  sie  nicht  nur  in  bezug 
auf  die  abstrakte  Kunst,  sondern  auf  Kunst  überhaupt.  Es  ist  all- 
gemein bekannt,  daß  große  Künstler  nicht  selten  hungerten  und  nicht 
selten  vergessen  und  in  Armut  starben,  wogegen  ganz  minderwertige 
Maler,  Bildhauer,  Dichter,  Musiker  (die  man  deutsch  «Kitschiers« 


174 


#  * 


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H' 


und  französisch  «Pompiers»  nennt),  die  oft  keine  Künstler,  sondern 
«Künstler»  waren  (und  noch  heute  sind),  Ruhm,  allgemeine  Bewunde- 
rung und  Reichtümer  zu  genießen  bekamen.  Und  weiter:  bei  allge- 
mein und  mit  Recht  anerkannten  Künstlern  kommt  es  fortwährend 
vor,  daß  einige  Fachmenschen  ihre  «frühe»  Periode  weit  über  die 
«spätere»  schätzen,  und  die  andren  »Sachverständigen»  umgekehrt. 
Also  nicht  nur  einzelne  Werke  können  mit  Bestimmtheit  als  «gut» 
oder  «besser»  bezeichnet  werden,  sondern  ganze  «Perioden»,  die 
ihrerseits  wieder  aus  vielen  einzelnen  Werken  bestehen,  für  die  auch 
noch  nicht  ein  «Qualitätsmesser»  erfunden  wurde.  Oder  wird  ein 
Künstler  jähre-  und  jahrelang  nicht  nur  «abgelehnt»,  sondern  ver- 
spottet und  nur  an  seinem  Lebensabend  plötzlich  anerkannt  und 
über  alle  Berge  gehoben  (Henri  Rousseau  zum  Beispiel,  wenn  man  an  die 
letzte  Zeit  denkt  und  an  einen  Fall,  den  wir  alle  erlebt  haben).  Die 
Qualitätseinschätzung  kennt  sonderbare  Fälle:  es  kommt  vor,  daß 
Künstler  erst  nach  mehreren  Jahrhunderten  «neuentdeckt»  werden 
(El  Greco  zum  Beispiel).  Es  kommt  auch  vor,  daß  der  Titel  «des 
größten  Malers  aller  Zeiten»  heute  einem  Künstler,  morgen  einem 
andren  zugesprochen  wird  (zum  Beispiel  Raphael,  Giotto,  Grüne- 
wald undsoweiter).  Es  kommt  ebenso  vor,  daß  eine  «Blüteperiode» 
plötzlich  zu  einer  «Niedergangsperiode»  herabgesetzt  wird  (zum 
Beispiel  die  «klassische»  Zeit  der  griechischen  Plastik). 
Es  gibt  nie  einen  «Thermometer»  für  die  Messung  der  Höhe  der 
Kunst  und  wird  nie  einen  geben. 

Zu  oft  hört  man  weiter  (jetzt  immer  seltener),  daß  die  abstrakte  Kunst 
in  ihren  Ausdrucksmitteln  zu  beschränkt  und  deshalb  gezwungen 


176 


sei,  immer  dieselben  «Motive»  oder  «Elemente»  zu  verwenden  und 
sich  deshalb  sehr  bald  «erschöpfe».  Von  diesem  Standpunkt  aus 
würde  man  manche  große  Künstler  ablehnen  und  als  «sich  wieder- 
holende» und  deshalb  langweilige  und  ausdrucksarme  Nichtkünstler 
bezeichnen  müssen.  Wie  wrürde  man  zum  Beispiel  Michelangelo 
einschätzen  müssen,  der  im  Laufe  seines  langen  Lebens  ausschließlich 
die  menschliche  Figur  verwendete  und  immer  bei  derselben  Wahl 
der  (wie  manche  behaupten  «übertriebenen»  und  «unnatürlichen») 
Muskulatur  bleibt.  Sollte  er  nicht  als  der  «langweiligste  und 
ausdrucksärmste»  Bildhauer  aller  Zeiten  gestempelt  werden?  Von 
diesem  Standpunkt  aus  würde  man  ohne  Zweifel  Michelangelo 
in  die  berühmte  Reihe  der  Berliner  Siegesallee  «einklassifizieren» 
müssen. 

Und  die  arme  Musik!  Wie  «gefährlich»  beschränkt  sind  ihre  Mittel. 
Immer  und  immer  dieselben  Streich-  und  Blasinstrumente  und  nur 
ein  bißchen  Trommel  dazu.  Wie  soll  man  da  Bach  von  Johann  Strauß 
unterscheiden  ? 

«Formalistisch»  sein  (oder  sagen  wir  deutsch  «oberflächlich»  sein)  ist 
eine  gefährliche  Sache,  die  unvermeidlich  auf  Holzwege  führt.  Und 
noch  eine  «Kanone»  gegen  die  abstrakte  Kunst,  eigentlich  gegen  die 
abstrakte  Malerei:  die  Farbe  könne  nur  in  Verbindung  mit  einem 
«Gegenstand»  «lebendig»  werden,  ohne  Gegenstand  bliebe  sie  «tot». 
Diese  Behauptung  könnte  nur  durch  ein  «Ehrenwort»  bewiesen  wer- 
den, weil  es  keine  andren  Beweise  für  sie  gibt.  Ich  glaube  sogar,  daß 
die  Farbe  «an  und  für  sich»  immer  lebendig  ist  und  daß  nur  schlechte 
Maler  die  Begabung  besitzen  sie  zu  «töten». 


177 


Zuallerletzt  darf  auch  noch  ein  «Einwand»  gegen  die  abstrakte 
Malerei  nicht  außer  acht  gelassen  werden,  da  die  Gegner  ihn  fast  nie 
vergessen  und  für  einen  «niederschmetternden»  halten.  Man  könnte 
ihn  in  eine  logische  Reihenfolge  fassen: 

1.  Nur  die  Natur  (zu  der  allerdings  auch  Gegenstände  gerechnet 
werden,  die  der  menschlichen  Hand  oder  der  Maschine  entspringen  - 
das  Material  für  die  «Nature  morte»  oder  «Stilleben»)  ist  befähigt, 
dem  Maler  Anregungen  zu  geben  und  seine  Intuition  zu  erwecken. 

2.  Der  abstrakte  Maler  verwendet  die  Natur  (oder  «Natur»)  nicht 
und  will  ohne  sie  auskommen.  Also : 

3.  Schließt  die  abstrakte  Malerei  die  Intuition  aus  und  wird  damit 
eine  «kopfmäßige». 

Auf  diesen  unlogischen  Schluß  geben  einige  Worte  von  mir  die 
richtige  Antwort.  Ich  erlaube  mir,  sie  in  französischer  Sprache  zu 
bringen,  so  wie  ich  sie  für  die  «Cahiers  d'Art»  auf  Aufforderung  von 
Herrn  Ch.  Zervos  geschrieben  habe. 

«Toute  la  nature,  la  vie  et  le  monde  entier  entourant  Partiste,  et  la 
vie  de  son  äme  a  lui  sont  la  source  unique  de  chaque  art.  C'est  trop 
dangereux  de  supprimer  une  partie  de  cette  source  (vie  exterieure 
autour  de  Partiste)  ou  Pautre  (sa  vie  interieure),  meme  plus  dangereux 
que  de  couper  ä  un  homme  une  jambe,  parce  qu'elle  peut  etre  rem- 
placee  par  une  jambe  artificielle.  Ici,  on  coupe  plus  que  la  jambe.  On 
coupe  la  vie  a  sa  propre  creation.  Le  peintre  se  «nourrit»  d'impressions 
exterieures  (vie  exterieure),  il  les  transforme  dans  son  äme  (vie 
interieure),  la  realite  et  le  reve!  sans  le  savoir.  Le  resultat  est 
une  oeuvre.  Cest  la  loi  generale  de  la  creation.  La  difTerence  se 


178 


montre  seulement  dans  lcs  moyens  d'expressions  (vie  interieure).» 
Und  etwas  weiter:  «Comme  il  existe,  depuis  deja  assez  longtemps, 
une  musique  avec  paroles  (je  parle  generalement),  la  chanson  et 
l'opera,  et  une  musique  sans  paroles,  la  musique  purement  sympho- 
nique,  ou  la  musique  «pure»,  il  existe  de  meme,  depuis  vingt-cinq 
ans,  une  peinture  avec  et  sans  objet».  {Cahiers  d'Art  No  1-4,  1935, 
p.  54). 

Die  sogenannte  «naturalistische»  Malerei  besteht  darin,  daß  der  Ma- 
ler ein  sehr  kleines  Stück  der  Natur  (Landschaft,  Mensch,  Blumen, 
undsoweiter)  vor  den  Augen  haben  muß  um  ein  malerisches  Wesen 
zu  schaffen,  das  Bild,  das  Bild  heißt.  Der  «Realist»  malt  dieses  Stück- 
chen «genau»  ab  (als  ob  es  möglich  wäre,  irgend  etwas  «genau» 
wiederzugeben).  Der  «Naturalist»  verändert  dieses  Stückchen  der 
Natur  je  «nach  seinem  Temperament».  Je  nach  dem  Maße  dieser 
Veränderung  heißt  er  «Impressionist»  oder  «Expressionist»  oder 
endlich  «Kubist».  Bei  der  typischen  allgemeinen  «Spezialisierung»  des 
19.  Jahrhunderts,  entstand  auch  in  der  Malerei  eine  spezielle  und 
extreme  Spezialisierung.  So  verhärteten  sich  die  früheren  Teilungen 
der  Maler  zu  richtigen  «Kasten»,  die  durch  harte  Mauern  voneinander 
getrennt  blieben.  -  Maler  des  Porträts,  der  Landschaft,  der  Marine, 
des  Stillebens  und  so  weiter.  Diese  harte  Teilung  ist  typisch  für  die 
geistige  Einstellung  des  vergangenen  Jahrhunderts  und  ist  auch 
noch  heute  vorherrschend  -  die  Analyse. 

In  der  abstrakten  Kunst  gehört  die  Analyse  zum  Kennenlernen  des 
«Handwerks»,  wogegen  die  Basis  der  schöpferischen  Kraft  eine 
synthetische  wurde.  Es  würde  viel  zu  weit  führen,  hier  ausführlicher 


179 


über  dieses  höchstwichtige  Thema  zu  sprechen.  Ich  erwähne  hier 
nur  die  eine  Tatsache,  die  meine  Behauptung  bestätigt:  der  abstrakte 
Maler  bekommt  seine  «Anregung»  nicht  von  einem  x-beliebigen 
Stück  Natur,  sondern  von  der  Natur  im  ganzen,  von  ihren  mannig- 
faltigsten Manifestationen,  die  sich  in  ihm  summieren  und  zum 
Werk  führen.  Diese  synthetische  Basis  sucht  sich  eine  für  sie  am 
besten  geeignete  Ausdrucksform,  das  heißt  die  «gegenstandslose». 
Die  abstrakte  Form  ist  breiter,  freier  und  inhaltsreicher  als  die 
«gegenständliche». 

Dies  ist  der  Kernpunkt  der  ganzen  «Frage». 

Man  sollte  die  Formwahl  dem  Künstler  überlassen  und  weniger  an 
der  Form  hängen  bleiben. 

Dank  dem  Materialismus  des  19.  Jahrhunderts  hat  man  sich  aber 
leider  zu  sehr  daran  gewöhnt,  das  Äußere  für  das  Innere  zu  halten 
und  damit  hinter  der  Form  den  Inhalt  nicht  zu  erleben.  Deshalb  wird 
so  viel  über  die  Formfrage  nachgedacht,  gesprochen  und  geschrieben. 
Auch  ich  habe  bereits  1912  «Über  die  Formfrage»  im  «Blauen  Reiter» 
geschrieben  und  darunter  folgendes  gesagt : 
«Es  gibt  keine  Frage  der  Form  im  Prinzip.» 


180 


Zwei  Richtungen 


1935  erschien  in  der  in  Kopenhagen  herausgegebenen  Schrift 
Konkretion  ein  Aufsatz  von  Kandinsky :  «Zwei  Richtungen»,  der  den 
Sinn  der  «abstrakten»  Kunst  in  konzentrierter  Form  erläutert. 


Die  eine  Richtung  ist  vorherrschend,  sie  scheint  alles  zu  beherrschen. 
Es  ist  die  Richtung,  in  der  sich  heute  die  sämtlichen  Länder  bewegen, 
oder  sich  zu  bewegen  scheinen. 

Der  Zweck  dieser  Richtung  ist,  materielle  Güter  aufzuhäufen,  zum 
maximalen  «Wohlstand»  zu  kommen,  nicht  nur  «Brot»  der  Menschheit 
zu  verschaffen,  sondern  auch  «Freude».  Natürlich  kann  mit  «Freude» 
noch  etwas  gewartet  werden  -  sie  kommt  von  selbst,  wenn  alle 
«Brot»  in  genügendem  Maße  haben. 

Alle  Länder  strengen  sich  äußerst  an,  diesen  Zweck  zu  erreichen. 
Es  ist  eine  leidenschaftliche,  heroische  Anstrengung,  die  alle  Mittel 
heilig  heißt,  die  zum  menschlichen  «Glück» führen.  Es  ist  eine  dankbare, 
hochwertige  Arbeit,  die  aber  leider  auch  Schattenseiten  hat. 
Die  eine  Schattenseite  ist  die,  daß  die  leidenschaftliche,  heroische 
Anstrengung  zum  einen  Resultat  führt,  das  fast  =  0  ist.  Das  «Brot» 
reicht  in  keinem  Lande  aus.  Die  «Freude»  ist  zu  selten  und  sieht  eher 
einer  Betäubung  ähnlich. 

Die  andre  Schattenseite  ist  die,  daß  die  Menschheit  die  Notwendigkeit 
«nichtmaterieller»  Güter  immer  mehr  vergißt.  Die  ehemaligen  Quel- 
len der  «geistigen  Güter»  -  die  Religion,  die  Wissenschaft  und  die 
Kunst  -  werden  als  solche  immer  mehr  verkannt,  und  es  wird  ver- 
sucht, sie  in  den  Dienst  des  materiellen  Lebens  zu  stellen. 


181 


Diese    erschreckende    Schattenseite    ist    das    logische    Resultat    des 
«reinen  Materialismus»  -  die  Materie  ließ  den  Geist  vergessen.  Von 
hier  der  «moderne»  Mensch  der  «Praxis»,  der  sich  vor  der  Maschine, 
Gewehrmaschine  und  Wohnmaschine,  tief  verbeugt,  der  einen  nur 
äußeren  Blick  kultiviert  und  über  den  inneren  lächelt. 
Die  Einseitigkeit  ist  fatal.  Letzten  Endes  kann  sie  die  Menschheit 
durch  Kau-  und  Verdauungsmaschinen  ersetzen. 
Es  gibt  aber  noch  eine  andere  Richtung,  die  heute  nur  vereinzelte  Er- 
scheinungen erzeugt,  wenig  bemerkt  und  mißverstanden  wird. 
Diese  Richtung  ist  ein  logisches  Resultat  der  inneren  Wendung,  die 
sich  bereits  vor  dem  Krieg  (unsere  moderne  Zeitmessung !)  bemerkbar 
machte  und  die  heute  immer  etwas  zunimmt,  obwohl  sie  auf  den 
ersten  Blick  scheinbar  immer  mehr  verschwindet. 
Der  Sinn  dieser  Richtung  ist  ein  doppelter : 

1.  Erwachen  und  Entwicklung  des  «inneren  Blickes»  und  dadurch 

2.  das  Erleben  der  großen  und  der  kleinen  Zusammenhänge,  die 
mikro-  und  makrokosmischer  Art  sind. 

Synthese. 

1913  habe  ich  in  meiner  kleinen  Autobiografie  (Verlag  «Der  Sturm», 
Berlin)  geschrieben:  «Alles  ,Tote£  erzitterte.  Nicht  nur  die  bedich- 
teten Sterne,  Mond,  Wälder,  Blumen,  sondern  auch  ein  im  Aschen- 
becher liegender  Stummel,  ein  auf  der  Straße  aus  der  Pfütze  blickender 
geduldiger  weißer  Hosenknopf,  ein  fügsames  Stückchen  Baumrinde, 
das  eine  Ameise  im  starken  Gebiß  zu  unbestimmten  und  wichtigen 
Zwecken  durch  das  hohe  Gras  zieht,  ein  Kalenderblatt,  nach  dem  sich 
die  bewußte  Hand  ausstreckt  und  aus  der  warmen  Geselligkeit  mit 


182 


den  noch  im  Block  bleibenden  Mitblättern  gewaltsam  herausreißt  - 
alles  zeigte  mir  sein  Gesicht,  sein  inneres  Wesen,  die  geheime  Seele, 
die  öfter  schweigt  als  spricht.  So  wurde  für  mich  jeder  ruhende  und 
jeder  bewegte  Punkt  (=  Linie)  ebenso  lebendig  und  offenbarte  mir 
seine  Seele.  Das  wurde  für  mich  genug,  um  mit  meinem  ganzen 
Wesen,  mit  meinen  sämtlichen  Sinnen  die  Möglichkeit  und  das 
Dasein  der  Kunst  zu  «begreifen»,  die  heute  im  Gegensatz  zur  ,Gegen- 
ständlichkeit'  die  .Abstrakte*  genannt  wird.» 

Dieses  Erleben  der  «geheimen  Seele»  der  sämtlichen  Dinge,  die  wir 
mit  unbewaffnetem  Auge,  im  Mikroskop,  oder  durch  das  Fernrohr 
sehen,  nenne  ich  den  «inneren  Blick».  Dieser  Blick  geht  durch  die 
harte  Hülle,  durch  die  äußre  «Form»  zum  Inneren  der  Dinge  hin- 
durch und  läßt  uns  das  innere  «Pulsieren»  der  Dinge  mit  unsren  sämt- 
lichen Sinnen  aufnehmen. 

Und  diese  Aufnahme  bereichert  den  Menschen  und  speziell  den  Künst- 
ler, weil  sie  bei  ihm  zum  Keim  seiner  Werke  wird.  Unbewußt. 
So  erzittert  die  «tote»  Materie.  Und  noch  mehr :  die  inneren  «Stim- 
men» der  einzelnen  Dinge  klingen  nicht  isoliert,  sondern  harmonisch 
alle  zusammen  -  die  «Sphärenmusik». 

Noch  ein  kleines  Zitat.  1912  schrieb  ich  in  meinem  Artikel  «Über 
die  Formfrage»  für  «Der  Blaue  Reiter»:  «Die  Linie  ist  ein  Ding, 
welches  ebenso  einen  praktisch -zweckmäßigen  Sinn  hat,  wie  ein 
Stuhl,  ein  Brunnen,  ein  Messer,  ein  Buch  undsoweiter.  Und  dieses 
Ding  wird  ...  als  ein  reines  malerisches  Mittel  gebraucht  -  also  in 
seinem  reinen  inneren  Klang.  Wenn  also  im  Bild  eine  Linie  von  dem 
Ziel,  ein  Ding  zu  bezeichnen,  befreit  wird  und  selbst  als  ein  Ding 


183 


fungiert,    wird    ihr    innerer   Klang   durch    keine  Nebenrolle  abge- 
schwächt und  bekommt  ihre  volle  innere  Kraft.» 
Die  Linie  ist  hier  nicht  mehr  als  nur  ein  Beispiel  aus  dem  großen 
Reich  der  «abstrakten»  Elemente,  die  zum  Aufbau  eines  Bildes  ge- 
braucht werden  können. 

Reiner  Klang!  Das  heißt  ohne  «Nebengeräusche»,  die  von  den  Fran- 
zosen so  nett  «Les  parasites»  genannt  werden.  Das  ist  das  «Material», 
aus  dem  der  abstrakte  Maler  seine  Bilder  «aufbaut». 
Der  Aufbau  selbst  wird  ihm  nicht  von  «Naturausschnitten»  diktiert, 
sondern  von  den  Naturgesetzen  im  ganzen,  von  den  Naturgesetzen, 
die  über  dem  Kosmos  regieren. 

Deshalb  ist  die  abstrakte  Kunst  eine  «reine»  Kunst  (wie  es  zum  Beispiel 
eine  «reine»  Musik  gibt)  und  deshalb  bekommt  der  sehende  Beschauer 
nicht  selten  einen  «kosmischen»  Eindruck  von  den  abstrakten  Bildern. 
Um  den  letzten  Punkt  auf  das  letzte  «i»  zu  setzen:  die  abstrakte  Kunst 
kommt  ohne  «Natur»  aus,  sie  unterliegt  aber  den  Gesetzen  der  Natur. 
Ihre  Stimme  zu  hören,  ihr  zu  gehorchen,  ist  für  den  Künstler  das 
höchste  Glück. 


184 


Franz  Marc 


1936:  Bürgerkrieg  in  Spanien  -  mit  der  Legion  Condor  -  Auf- 
rüstung in  Deutschland  -  politischer  Explosivstoff  allenthalben  - 
Verfolgung  des  echt  Künstlerischen  «hüben  und  drüben»  -  Wieder- 
kehr des  20.  Todestages  von  Franz  Marc,  gefallen  am  21.  Februar 
1916  vorVerdun.  Über  seinen  Freund  schreibt  Kandinsky  zwei  Tex- 
te. Den  einen  für  ein  in  Deutschland  geplantes  Gedenkbuch.  Der 
zweite  ist  nachstehend  gedruckt;  er  erschien  in  No  8-10/1936  der 
Cahiers  d*A.rt. 


Ich  machte  die  Bekanntschaft  von  Franz  Marc  unter  ziemlich  drama- 
tischen Umständen. 

Einer  Gruppe  «avantgardistischer»  Künstler  aus  München  gelang  es 
im  Jahre  1910,  nach  Überwindung  ungenannter  Schwierigkeiten, 
eine  Ausstellung  zu  organisieren  in  einer  der  größten  und  schönsten 
Kunstgalerien  dieser  Stadt,  die  man  «das  moderne  Athen»  nannte. 
Die  «Athener»  hatten  in  diesem  außergewöhnlichen  Fall  all  ihr  sonst 
sorgfältig  verborgenes  Temperament  offenbart.  Die  Presse  verlangte 
die  sofortige  Schließung  dieser  «anarchistischen»  Ausstellung  (der 
Ausdruck  «marxistisch»  war  damals  noch  nicht  en  vogue),  welche 
ausländische,  der  alten  bayrischen  Kultur  gefährlich  werdende 
Künstler  zusammengestellt  hätten.  Sie  machte  verständlich,  daß  die 
russischen  Künstler  besonders  gefährlich  wären  -  Dostojewskij  mit 
seinem  «alles  ist  erlaubt!».  Tatsächlich  hatte  es  Russen  in  der  Gruppe, 
aber  es  hatte  auch  Franzosen,  Italiener,  Österreicher  und  Nord- 
deutsche. Doch  keinen  einzigen  Bayer.  Der  Galeriebesitzer  beklagte 
sich,  daß  er  nach  jeder  täglichen  Schließung  die  Bilder  abtrocknen 
müßte,  weil  das  Publikum  sie  angespuckt  hätte.  Man  muß  sagen,  daß 


185 


dieses  entsetzte  Publikum  gut  erzogen  war;  es  spuckte,  aber  es 
zerschnitt  die  Leinwände  nicht,  wie  mir  das  einmal  in  einer  andern 
Stadt  während  einer  Ausstellung  passiert  ist. 

Um  den  Ruf  der  bayrischen  Bewohner  Münchens  zu  retten,  füge  ich 
an,  daß  sich  nicht  eine  Stimme  erhob,  um  die  Ausstellung  zu  ver- 
teidigen. Nicht  eine  einzige  bayrische  Stimme,  aber  eine  preußische. 
Diese  Stimme  gehörte  Hugo  von  Tschudi,  Generaldirektor  aller  bay- 
rischen Kunstmuseen.  Er  war  von  Berlin  gekommen,  wo  er  Direktor 
der  Nationalgalerie  gewesen  war  und  wo  er  die  Abteilung  für  fran- 
zösische Kunst,  mit  Hilfe  privater  Spenden,  eingerichtet  hatte. 
Er  war  ein  Mann  von  reinem  und  freiem  Geist,  von  unerschöpflicher 
Energie  und  starker  Willenskraft  -  er  kannte  keine  Konzessionen. 
Kurz,  er  hatte  Berlin  verlassen  müssen,  und  der  Prinzregent  von 
Bayern  hatte  ihm  die  bayrischen  Museen  anvertraut.  Ihm  war  es  zu 
verdanken,  daß  es  uns  gelang,  unsere  Ausstellung  zu  machen  und  ihm 
war  es  zu  verdanken,  daß  die  von  der  Presse  geforderte  «sofortige 
Schließung»  nicht  stattfand.  Und  es  war  ebenfalls  er,  der  in  die  Aus- 
stellung kam,  um  dem  Besitzer  der  Galerie,  der  manchmal  vollständig 
den  Kopf  verlor,  Mut  zuzusprechen.  Und  endlich  war  er  es,  der  aus 
der  «alten  Pinakothek»  ein  Wunder  alter  Kunst  machte.  Ein  Wunder, 
das  bald  nach  seinem  Tod  verschwand. 

Aber  da  war  doch  eine  rein  bayrische  Stimme.  Sie  kam  plötzlich  aus 
einem  kleinen  Dorf  Oberbayerns.  Franz  Marc  hatte  einen  Brief  voller 
Enthusiasmus  und  Glückwünsche  geschrieben  an  unsere  Gruppe. 
Er  hatte  das  Zartgefühl  gehabt,  nicht  persönlich  zu  erscheinen  und 
uns  zu  verpflichten,  persönliche  Beziehungen  mit  ihm  aufzunehmen. 


186 


Als  ich  ihn  später  sah,  zum  ersten  Mal,  verstand  ich,  daß  er  seiner 
noblen  Natur  nach  gehandelt  hatte. 

Er  stellte  ein  sehr  seltenes  Exemplar  Mensch  dar.  Sein  Äußeres 
stimmte  haargenau  mit  seinem  Inneren  zusammen:  eine  harmonische 
Kombination  von  «hart»  und  «weich». 

Seine  große  Statur,  seine  breiten  Schultern,  sein  fast  hageres  Gesicht, 
sein  schwarzes  Haar,  sein  sicherer  und  langer  Schritt  gaben  ihm 
das  Aussehen  eines  Bergbewohners.  Ich  liebte  es,  ihn  in  den  Bergen, 
auf  den  Weiden  und  in  den  Wäldern  zu  sehen.  Dort  war  er  «zu- 
hause». Er  war  immer  von  seinem  großen,  weißen  Hund  begleitet. 
«Russi»  (Rußland  zu  Ehren)  glich  in  seiner  Größe,  Kraft  und  Ruhe 
seinem  Meister.  Er  zeigte  dieselbe  Verbindung  von  «hart»  und  «weich». 
Sie  ergänzten  sich  sehr  gut  und  verstanden  sich  vortrefflich.  Der 
Schwarze  sagte  etwas  zum  Weißen,  und  der  Weiße  machte  mit  dem 
Kopf  ein  bestätigendes  Zeichen. 

Marc  hatte,  allgemein,  direkte  Beziehungen  zur  Natur,  wie  ein 
Bergbewohner  oder  gar  wie  ein  Tier.  Ich  hatte  manchmal  den  Ein- 
druck, daß  die  Natur  befriedigt  war,  ihn  zu  sehen.  Alles  in  der  Natur 
zog  ihn  an,  aber  vor  allem  die  Tiere.  Zwischen  dem  Künstler  und 
seinen  «Modellen»  existierte  ein  gegenseitiger  Kontakt,  und  deshalb 
hatte  Marc  «Zutritt»  zum  Leben  der  Tiere,  und  es  war  dieses  Leben, 
das  ihn  inspirierte. 

Aber  er  verlor  sich  nie  in  die  Details,  und  das  Tier  war  für  ihn  immer 
nur  eines  der  Elemente  des  Ganzen,  oft  sogar  nicht  einmal  ein  wesent- 
liches. Er  baute  seine  Bilder  wie  ein  Maler,  nicht  wie  ein  «Erzähler». 
Aus  diesem  Grund  war  er  nie  ein  «Tiermaler».  Was  ihn  anzog,  war 


187 


das  große  Organische,  das  heißt  die  Natur  im  allgemeinen.  Darin  liegt 
die  Erklärung  der  durch  Marc  geschaffenen  originalen  Welt,  deren 
Wiederholung  versucht  wurde,  aber  ohne  Erfolg. 
Die  Zeit  hat  seither  ihre  Ansichten  geändert,  in  einigen  Richtungen 
sogar  wesentlich.  Ich  denke,  daß  es  heute  ziemlich  schwierig  ist, 
jemanden  zu  finden,  der  sich  verletzt  fühlt  und  sich  erzürnt,  wenn 
er  auf  einer  Leinwand  eine  zitronengelbe  Kuh  sieht,  ein  ultramarin- 
blaues Pferd,  einen  zinnoberroten  Löwen.  Aber  damals  ging  das 
Publikum  «an  den  Wänden  hoch»  und  war  bis  in  die  Tiefen  seiner 
Seele  beunruhigt  vor  diesen  «Grimassen»  und  der  Tendenz,  «den 
Bürger  zu  verblüffen»  und  ihn  zu  beleidigen.  Man  fühlte  sich  an- 
gespuckt, mehr  noch,  man  spuckte  selber  auf  unsere  Werke. 
Man  begriff  nicht,  daß  diese  auf  eine  «ekelhafte»  Weise  veränderten 
Farben  und  Formen,  daß  diese  «Vergewaltigung  der  Natur»  die  reine 
künstlerische  Anwendung  natürlicher  Mittel  waren,  um  die  besondere 
Schöpfungswelt  Marcs  auszudrücken.  Eine  phantastische,  aber  wirk- 
liche Welt. 

Man  fragte:  «Haben  sie  blaue  Pferde  gesehen?»  Und  selten  antwor- 
tete eine  wohlmeinende  Stimme,  leise  und  zögernd :  «Aber .  . . 
manchmal,  am  Abend,  bei  untergehender  Sonne,  scheint  ein  schwarzes 
Pferd  fast  blau.»  -  «Welche  Aufschneiderei!» 

Die  Zeit  war  schwierig,  aber  heroisch.  Wir  malten,  das  Publikum 
spuckte.  Heute  malen  wir,  und  das  Publikum  sagt :  «Das  ist  hübsch». 
Dieser  Wechsel  will  nicht  heißen,  daß  die  Zeiten  leichter  geworden 
wären  für  den  Künstler. 
Anstatt  einen  direkten  und  natürlichen  Kontakt  mit  der  Kunst  zu 


188 


suchen,  erfindet  man  heute  neue  Schwierigkeiten  und  Hindernisse, 
um  sie  zwischen  das  Werk  und  den  Betrachter  zu  stellen.  So  fragt 
man  mit  vorgefaßter  Miene,  ob  die  Kunst  Marcs  einer  germanischen 
Quelle  entstamme,  das  heißt  einer  «deutschen  Seele»,  und  ob  seine 
Malerei  wahrhaft  deutsch  sei.  Ich  glaube  ja,  denn  Marc  liebte  sein 
Land.  Meiner  Meinung  nach  wäre  es  wesentlich,  unter  der  «natio- 
nalen Seele»  ihre  Quelle  universaler  Menschlichkeit  zu  sehen. 
Marc  und  ich  hatten  uns  in  die  Malerei  gestürzt,  aber  die  Malerei 
allein  genügte  uns  nicht.  Ich  hatte  dann  die  Idee  eines  «synthetischen» 
Buches,  welches  alte,  enge  Vorstellungen  auslöschen  und  die  Mauern 
zwischen  den  Künsten  zum  Fallen  bringen  sollte,  zwischen  der 
offiziellen  Kunst  und  der  nicht  zugelassenen  Kunst,  und  das  endlich 
beweisen  sollte,  daß  die  Frage  der  Kunst  nicht  eine  Frage  der  Form 
sondern  des  künstlerischen  Gehalts  ist.  Die  Trennung  der  Künste, 
ihre  isolierte  Existenz  in  kleinen  «Zellen»  mit  hohen,  harten,  un- 
durchsichtigen Mauern  war  in  meinen  Augen  eine  der  ärgerlichen 
und  gefährlichen  Folgen  der  «analytischen»  Methode,  welche  die 
«synthetische»  Methode  in  der  Wissenschaft  unterdrückte  und  damit 
auch  in  der  Kunst  begann.  Die  Resultate  folgten:  die  Härte,  der 
niedrige  Gesichtspunkt  und  das  enge  Gefühl,  der  Verlust  der  Frei- 
heit des  Gefühls,  vielleicht  sein  endgültiger  Tod. 
Meine  Idee  war  also,  an  einem  Beispiel  zu  zeigen,  daß  der  Unter- 
schied zwischen  der  «offiziellen»  Kunst  und  der  «ethnographischen» 
Kunst  keine  Lebensberechtigung  hatte;  daß  die  verderbliche  Ge- 
wohnheit, unter  den  verschiedenen  äußerlichen  Formen  nicht  die 
innere  organische  Wurzel  der  Kunst  im  allgemeinen  zu  sehen,  zum 


189 


totalen  Verlust  der  Wechselbeziehung  zwischen  der  Kunst  und  dem 
Leben  der  menschlichen  Gesellschaft  führen  konnte.  Und  gleicher- 
weise der  Unterschied  zwischen  der  Kunst  des  Kindes,  dem  «Dilet- 
tantismus» und  der  «akademischen»  Kunst  -  die  Gradunterschiede 
der  «vollendeten»  und  der  «nicht  vollendeten»  Form  überdeckten  die 
Kraft  des  Ausdrucks  und  die  gemeinsame  Wurzel. 
Diese  Idee  ist  heute  nicht  mehr  zu  neu,  25  Jahre  sind  seither  ver- 
flossen. Aber  um  die  Wahrheit  zu  sagen,  der  Gesichtspunkt  hat  sich 
im  allgemeinen  nicht  viel  geändert,  und  die  «Formfrage»  erstickt  noch 
jetzt  den  künstlerischen  Gehalt  (man  sehe  beispielsweise  die  Frage 
der  «Möglichkeit  einer  ungegenständlichen  Kunst»). 
Meine  Idee  war  ferner,  einen  Maler,  einen  Musiker,  einen  Dichter, 
einen  Tänzer  und  so  weiter  Seite  an  Seite  zusammen  arbeiten  zu  lassen, 
und  in  dieser  Absicht  wollte  ich  mich  an  die  Künstler  der  isolierten 
«Zellen»  wenden,  damit  sie  am  projektierten  Buch  mitwirkten. 
Marc  war  begeistert  von  diesem  Plan,  und  wir  beschlossen,  uns 
gleich  ans  Werk  zu  machen.  Es  war  eine  wunderbare  Arbeit,  und  in 
einigen  Monaten  hatte  Der  Blaue  Reiter  seinen  Verleger  gefunden. 
Er  erschien  im  Jahr  1912.  Wir  hatten  zum  ersten  Mal  in  Deutschland 
die  Kunst  der  «Wilden»  in  einem  Kunstbuch  gezeigt,  die  bayrische 
und  russische  «Volkskunst»  (die  Hinter-Glas-Malerei,  die  «Ex-voto», 
die  «Lubki»),  die  «Kinderkunst»  und  die  «dilettantische»  Kunst.  Wir 
hatten  eine  Faksimile- Ausgabe  von  Her^gewächse  von  Arnold  Schön- 
berg herausgegeben,  die  Musik  seiner  Schüler  Alban  Berg  und  Anton 
von  Webern,  und  wir  zeigten  die  alte  Malerei  Seite  an  Seite  mit  der 
modernen. 


190 


Die  Autoren  der  Artikel  waren  Maler  und  Musiker.  Delacroix  und 
Goethe  bestätigten  unsere  Ideen  durch  ihre  Aussprüche.  141  Repro- 
duktionen «illustrierten»  alle  diese  Ideen. 

Der  große  Erfolg  des  Buches,  hauptsächlich  bei  der  Jugend,  hat  be- 
wiesen, daß  es  im  richtigen  Moment  zur  Welt  gekommen  war. 
Ermutigt  machten  wir  Pläne  für  das  nächste  Buch,  das  die  Kräfte 
von  Künstlern  und  Wissenschaftlern  vereinigen  sollte.  Die  gemein- 
same Wurzel  zwischen  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  zu  finden, 
war  damals  unser  Traum,  der  nächstens  nach  Verwirklichung  ver- 
langte. 

Aber  der  Krieg  setzte  diesen  Träumen  ein  Ende. 

Gerade  einige  Monate  vor  Beginn  des  Krieges  gelang  es  Marc 
durch  Zufall,  einen  seiner  glühendsten  Wünsche,  einen  kleinen  Land- 
besitz zu  haben,  zu  verwirklichen.  Er  kam  in  den  Besitz  eines  kleinen, 
sehr  sympathischen  Hauses,  eines  Stück  Waldes,  eines  kleinen 
Gartens  und  einer  Wiese,  wo  seine  Ziegen  lebten.  Dorthin  war  ich 
gekommen,  um  ihm  «Auf  Wiedersehen»  zu  sagen,  als  der  Krieg 
ausgebrochen  war  -  man  war  damals  überzeugt,  daß  er  nur  einige 
Monate  dauern  konnte.  Aber  Marc  antwortete  mir  mit  einem  «Adieu» 
-  «Wieso  Adieu  ?»  -  «Weil  wir  uns  nicht  mehr  sehen  werden,  ich  weiß 
es.» 
Franz  Marc  wurde  am  21.  Februar  1916  bei  Verdun  getötet. 


191 


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Zugang  zur  Kunst 


Die  Texte  Kandinskys  erschienen  seit  1934  ausschließlich  in  den 
freien  Ländern:  Belgien,  Dänemark,  England,  Frankreich,  Holland 
und  in  der  Schweiz.  Auch  stellte  er  in  diesen  freien  Ländern  seine 
Bilder  aus,  währenddem  sie  in  Deutschland  als  «entartete  Kunst» 
verfemt  waren.  Für  Eri  Udstilling,  Kopenhagen,  1937,  schrieb  er 
nachstehende  Studie,  die,  getragen  von  einer  Skepsis  der  tech- 
nischen Entwicklung  gegenüber,  das  Primat  des  Geistigen  betont. 


«Die  Zeit  der  Technik.» 
Neues,  aber  bereits  altes  Thema. 

Man  gewöhnt  sich  schnell  an  immer  neue  Wunder,  und  die  alten 
Märchenträume  sind  überflügelt  worden. 

Atomzerspaltung  ist  «altes  Spiel»  geworden.  Der  Flug  in  die  Strato- 
sphäre steht  an  der  Schwelle  des  «alten  Spiels».  Die  unhörbaren 
«Ultratöne»  fangen  an,  «hörbar»  zu  werden,  werden  fügsam  und 
dienen  praktischen  Zwecken.  Das  Überfliegen  des  Nordpols  führt 
heute  zu  Küssen  an  Flugplätzen  und  Bahnhöfen.  Wie  lange  noch  ? 
Der  Bedarf  an  Wundern  scheint  bald  total  gedeckt  zu  werden. 
Was  können  dagegen  die  «Wunder  der  Kunst»  ? 

Logik.  Mathematik  -  Kalkulation.  Die  unerschöpfliche  Quelle 
immer  neuer  Wunder.  Ein  sich  in  Unendlichkeit  verlierender  Weg. 
Die  Mathematik  erobert  sich  von  Tag  zu  Tag  wichtigere  Plätze  in 
verschiedensten  Wissenschaften  und  darüber  hinaus.  Die  Kalkulation 
versagt  scheinbar  nie  auf  verschiedensten  Gebieten.  Die  Logik 
schneidet  manchmal  Fratzen.  Bleibt  aber  sicher. 

Ist  dies  auch  die  unerschöpfliche  Quelle  der  «Wunder  der  Kunst»? 
Der  sich  in  Unendlichkeit  verlierende  Weg  der  siegesreichen  Kunst  ? 


193 


2  Heringe  +  2  Heringe  =  4  Heringe.  Scheint  ein  ewiges  Gesetz  zu 
sein,  das  stets  unerschüttert  bleibt. 
2  Gelb  +  2  Gelb  =  ?  Manchmal  =  0. 

In  der  Kunst  wird  nicht  selten  Vergrößerung  durch  Verminderung 
erreicht.  Wo  bleibt  die  Kalkulation  ?  Die  Logik  schmunzelt  verlegen. 
Die  Mathematik  faßt  sich  am  Kopf. 
Wer  will  noch  ein  Kunstwerk  errechnen  ? 

Der  Künstler  «hört»,  wie  ihm  «jemand»  sagt:  «Halt!  Wohin?  Die 
Linie  ist  zu  lang.  Etwas  abnehmen,  aber  nur  etwas!  ^twas'  sage  ich 
Dir.»  Oder:  «Willst  Du  das  Rot  lauter  klingen  lassen?  Schön!  Also 
etwas  Grün  hinein.  Also  etwas  ,brechen£,  abnehmen.  Aber  nur 
,etwas'  sage  ich  Dir.»  Was  Henri  Rousseau  für  das  «Diktat  seiner  ver- 
storbenen Frau»  hielt. 

«Die  verstorbene  Frau»  ist  die  unerschöpfliche  Quelle  der  «Wunder 
der  Kunst».  Der  sich  in  Unendlichkeit  verlierende  Weg. 
Man  muß  nur  zu  «hören»  verstehen,  das  heißt  wenn   die  Stimme 
klingt.  Wenn  nicht,  dann  ist  es  aus  mit  der  Kunst. 
So  werden  vom  Künstler  die  Formen  «erfunden»,  «gemessen»,  und  so 
entsteht  die  «Proportion»,  das  Gleichgewicht.  Die  «Konstruktion»! 
Das  hilft  aber  alles  nicht,  wenn  der  «Beschauer»  kein  «Ohr»  hat. 
Er  braucht  nicht  zu  hören,  was  erst  entstehen  soll,  aber  den  «Klang» 
des  bereits  entstandenen  Werkes  muß  er  hören  können. 
Der  «Beschauer»  ist  aber  zu  oft  von  Propellern  betäubt.  Das  «reale 
Leben»  hat  ihn  geblendet.  Hier  liegt  der  Grund  der  heutigen  Be- 
hauptung, die  Kunst  hätte  die  Beziehungen  zum  Leben  verloren. 
Nein.  Nicht  die  Kunst  hat  die  Beziehungen  verloren,  sondern  die 


194 


Menschheit  im  ganzen.  Die  Beziehungen  nicht  zum  Lehen,  sondern 
zum  Leben. 

Das  Leben  besteht  nicht  nur  aus  «Realitäten».  Wo  würde  dann  das 
Unreale  bleiben?  Wo  würde  dann  der  Traum  einen  Platz  für  sich 
finden?  Nicht  der  Traum  der  «Siebenmeilenstiefel»,  der  bereits  ver- 
wirklicht wurde.  Der  Traum  der  «unrealen»  Welt,  die  mit  der  realen 
Welt  zusammen  die  Welt  bildet. 

Der  «geistige»  Mensch  ist  kastriert  worden,  nur  ein  Halbwesen  steht 
an  der  Stelle  des  Ganzen. 

Als  die  Menschen  sich  zu  «alten  Zeiten»  (vor  dem  bis  heute  noch 
nicht  «bezahlten»  Weltkrieg)  über  unsre  Träume  mokierten,  waren 
sie  noch  lebendig,  da  sie  vor  Empörung  spuckten.  Als  sie  spuckten, 
hatten  sie  scheinbar  eigne  Träume,  die  von  unsren  Träumen  be- 
leidigt wurden.  Die  Menschen  spuckten,  weil  sie  das  Werk  erlebten, 
wenn  auch  verkehrt.  Wenn  sie  heute  diese,  wenn  auch  verkehrte, 
Beziehung  zur  Kunst  verloren  haben,  so  ist  der  «Propeller»  nicht 
wenig  daran  schuld. 

Nein,  es  ist  kein  Größenwahn  zu  behaupten,  daß  die  heutige  Kunst 
nicht  weniger  zu  «sagen»  hat,  als  es  vor  hundert  und  noch  mehr  Jahren 
der  Fall  war. 
Eher  mehr. 

Vor  25  Jahren  hat  die  Malerei,  und  ziemlich  bald  danach  die  Plastik, 
eine  neue  «Sprache»  entdeckt  -  das  «Reden»  mit  ausschließlich 
künstlerischen  Mitteln  -  ohne  jeden  «Zusatz». 

Diese  Sprache  ist  die  sogenannte  «abstrakte»,  oder  wie  man  sie 
sonst  nennt.  Wie  sonderbar  ist  es,  daß  gerade  diese  «reine»,  unver- 


195 


mischte  Sprache  (ohne  «Parasiten»),  mancher  Meinung  nach,  den  Riß 
zwischen  Kunst  und  Leben  vollbrachte. 

Die  Kunst  schien  dem  Leben  nicht  mehr  folgen  zu  können.  Oder 
war  es  das  Leben  vielleicht,  das  der  Kunst  nicht  mehr  zu  folgen 
vermochte  ? 

Diese  Frage  möchte  ich  mit  «Ja!»  beantworten.  Mit  einem  ganz 
energischen  «Ja!» 

Die  heutige  Menschheit  ist  allerdings  nicht  selbst  daran  schuld,  daß 
sie  alles  in  der  Welt  ausschließlich  rein  materialistisch  aufzufassen 
vermag,  und  daß  sie  vor  Dingen,  zu  welchen  sie  einen  «materiellen» 
Weg  nicht  findet,  verständnislos  und  verwirrt  steht.  Oder  -  besser 
gesagt  -  solchen  «unverständlichen»  Dingen  ruhig  den  Rücken  kehrt, 
ohne  sich  um  einen  «Zugang»  zu  bemühen.  Sie  trägt  hier  keine 
eigne  Schuld,  aber  Folgen  einer  fremden. 

Soll  es  immer  auch  weiter  so  bleiben?  Ist  der  «RIß»  zwischen  Kunst 
und  Leben  unkurierbar  ? 

Diese  Frage  möchte  ich  mit  einem  energischen  «Nein!»  beant- 
worten. 

Nein,  und  nochmals  nein!  Es  bleibt  nicht  so,  da  das  «Halbwesen»  nur 
eine  Übergangserscheinung  ist,  da  der  Mensch  letzten  Endes  nicht 
dazu  fähig  ist,  stets  sich  mit  nur  einer  einzigen  Seite  zu  begnügen,  da 
ihm  ein  Bedürfnis  angeboren  ist,  auch  nach  der  «andren  Seite»  zu 
hungern  und  zu  dursten. 

Diese  andre  Seite  ist  eben  die  Kunst,  die  allein  die  Fähigkeit  und  die 
Kraft  in  sich  trägt,  das  sagen  zu  können,  was  das  Leben  notge- 
drungen verschweigt. 


196 


Und:  nur  diese  beide  zusammen  -  Leben  und  Kunst  -  erfüllen  das 
Leben.  Und  diese  beiden  zusammen  lassen  das  Leben  erraten.  Wenig- 
stens ahnen. 

Die  Ahnung  ist  schon  viel.  Sie  ist  ein  Versprechen,  daß  die  fatale 
Einseitigkeit  einmal  aufzuhören  verurteilt  ist  und  durch  die  Viel- 
seitigkeit ersetzt  wird,  die  endlich  das  Leben  immer  mehr  erkennen 
läßt. 

Ich  bitte  um  Erlaubnis,  ein  paar  Worte  über  meine  Malerei  zu  sagen. 
Ich  bitte,  nicht  zu  glauben,  daß  meine  Malerei  «Geheimnisse»  vor 
Ihnen  zu  enthüllen  sucht,  daß  ich  (wie  manche  glauben)  eine  spezielle 
«Sprache»  erfunden  habe,  die  «erlernt»  werden  muß  und  ohne  die 
meine  Malerei  nicht  «entziffert»  werden  könnte. 

Man  soll  die  Sache  nicht  komplizierter  machen,  wie  sie  in  der  Wirk- 
lichkeit ist.  Mein  «Geheimnis»  besteht  ausschließlich  darin,  daß  ich 
seit  Jahren  die  glückliche  Fähigkeit  erwarb  (vielleicht  unbewußt 
erkämpfte),  mich  (und  damit  meine  Malerei)  von  «Nebengeräuschen» 
zu  befreien,  weil  für  mich  jede  Form  lebendig,  klang-  und  damit  aus- 
drucksvoll wurde.  So  erwarb  ich  gleichzeitig  die  glückliche  Fähigkeit, 
die  leiseste  Sprache  zu  «hören».  Und  damit  kam  die  nicht  weniger 
glückliche  Möglichkeit,  aus  dem  unendlich  großen  «Formenschatz» 
vollkommen  frei  und  hemmungslos  die  Form  herauszuholen,  die  ich 
für  diesen  augenblicklichen  Fall  (=  Werk)  benötige.  Ich  brauche 
mich  dabei  nicht  um  den  «Inhalt»  zu  kümmern,  sondern  nur  und  aus- 
schließlich um  die  richtige  Form.  Und  die  richtig  herausgeholte 
Form  drückt  ihren  Dank  dadurch  aus,  daß  sie  selbst  ganz  allein  für  den 
Inhalt  sorgt. 


197 


Hier  liegt  die  Lösung  der  Frage  «Abstrakte  Kunst».  Die  Kunst 
bleibt  stumm  nur  für  den,  der  die  Form  nicht  zu  «hören»  vermag. 
Aber!  nicht  nur  die  «abstrakte»,  sondern  jede  Kunst,  wenn  sie  auch 
durch  und  durch  «realistisch»  ist. 

Der  «Inhalt»  der  Malerei  ist  Malerei.  Hier  braucht  nichts  entziffert  zu 
werden:  der  Inhalt  redet  freudeerfüllt  zu  dem,  für  den  jede  Form 
lebendig,  also  inhaltsvoll  ist. 

Der,  zu  dem  die  Form  «spricht»,  wird  nicht  unbedingt  nach  «Gegen- 
ständen» suchen.  Ich  will  gern  anerkennen,  daß  der  «Gegenstand»  für 
manchen  Künstler  eine  Ausdrucksnotwendigkeit  ist,  wobei  aber  der 
Gegenstand  nur  eine  Zugabe  der  Malerei  bleibt.  Der  Folgenschluß  ist 
also  der,  daß  man  den  Gegenstand  nicht  für  etwas  Unumgängliches 
in  der  Malerei  zu  halten  braucht.  Er  kann  ebenso  leicht  störend 
wirken,  wie  es  zum  Beispiel  für  mich  in  meiner  Malerei  der  Fall  ist. 
Glauben  Sie  auch  bitte  nicht,  daß  ich  vor  Ihnen  ein  «Programm» 
entwickle.  Und  ganz  besonders  bitte  ich  nicht  zu  glauben,  daß  ich 
Ihnen  gern  ein  «Programm»  aufhalsen  möchte. 

Programme  können  ganz  schön  und  verlockend  sein,  aber  nur  dann, 
wenn  sie  aus  den  fertigen  Werken  herauskristallisiert  werden.  Sie 
sollen  Folgen  des  Werkes  sein,  aber  nicht  sein  Ursprung. 
Das  Schaffen  ist  frei  und  soll  frei  bleiben.  Das  heißt  es  soll  keinem  Druck 
unterliegen.  Mit  der  einzigen  Ausnahme  des  Druckes,  der  vom  «inneren 
Diktat»  verursacht  wird  -  von  der  «Stimme  der  verstorbenen  Frau». 
Deshalb  erschrecke  ich  persönlich  nicht,  wenn  sich  unter  meine 
Formen  eine  Form  hineinschmuggelt,  die  an  eine  «Naturform»  er- 
innert. Ich  lasse  sie  ruhig  stehen  und  will  sie  nicht  streichen. 


198 


Wer  weiß,  vielleicht  sind  unsre  «abstrakten»  Formen  alle  miteinander 

«Naturformen»,  aber.  .  .  keine  «Gebrauchsgegenstände».  Diese  Kunst- 

und  Naturformen  sind  «zwecklos»,  wodurch  sie  eine  noch  klarere 

Stimme  besitzen,  für  die  ein  «Ohr»  notwendig  ist. 

Nochmals:  man  soll  sich  vor  programmatischer  Kunst  hüten,  und 

nur  und  immer  einer  undefinierbaren  Sehnsucht  folgen.  Weil  die 

Kunst  immer  der  Ausdruck  der  Sehnsucht  war,  heute  ist  und  in  der 

Zukunft  immer  eine  Sehnsucht  bleibt. 

Das   Glück   des   Künstlers    ist  die   Möglichkeit,   die   Sehnsucht  in 

Formen  kleiden  zu  können  -  mehr  oder  weniger.  Sein  Unglück  ist  die 

Unmöglichkeit,  die  Sehnsucht  durch  Formen  restlos  zum  «Ausdruck» 

zu  bringen. 

Ich  weiß,  wie  schwer  es  manchem  fällt,  diesen  Ausdruck  zu  «lesen» 

-  besonders,  wenn  er  aus   «abstrakten»  Formen  spricht.   Mancher 

«Beschauer»  erschrickt,  weil  es  ihm  scheint,  der  Boden  wäre  unter 

seinen  Füßen  weggerissen  worden,  er  «hänge  in  der  Luft». 

Besonders  heute  wird  es  vom  «normalen»  Menschen  verlangt,  er 

soll  «mit  beiden  Füßen  fest  auf  dem  Boden  stehen».  Leider  folgt  er 

zu  oft  diesem  Befehl,  wobei  er  scheinbar  vergißt,  daß  heute  sogar 

sein  Körper  den  uralten  Traum  des  Fliegens  erreicht  hat,  schon  heute 

über  den  Nordpol  und  in  die  Stratosphäre  zu  fliegen  vermag.  Bald 

erreicht  er  vielleicht  in  der  «letzten»  Höhe  den  letzten  irdischen 

«Deckel». 

Wie  viel  leichter  dagegen  ist  das  «Fliegen»  in  der  Kunst,  wozu  nicht 

einmal  ein  Flugzeug  notwendig  ist. 

Erlauben  Sie  mir,  Ihnen  zum  Schluß  ein  kleines  Zitat  aus  meiner 


199 


kurzen  Autobiografie  zu  bringen,  die  1913  erschien  (Kandinskyy 
Verlag  «Der  Sturm»,  Berlin) : 

«...  Lösung  befreite  mich  und  öffnete  mir  neue  Welten.  Alles 
,Tote*  erzitterte.  Nicht  nur  die  bedichteten  Sterne,  Mond,  Wälder, 
Blumen,  sondern  auch  ein  im  Aschenbecher  liegender  Stummel,  ein 
auf  der  Straße  aus  der  Pfütze  blickender,  geduldiger  weißer  Hosen- 
knopf, ein  fügsames  Stückchen  Baumrinde,  das  eine  Ameise  im 
starken  Gebiß  zu  unbestimmten  und  wichtigen  Zwecken  durch  das 
hohe  Gras  zieht,  ein  Kalenderblatt,  nach  dem  sich  die  bewußte  Hand 
ausstreckt  und  aus  der  warmen  Geselligkeit  mit  den  noch  im  Block 
bleibenden  Mitblättern  gewaltsam  herausreißt  -  alles  zeigte  mir  sein 
Gesicht,  sein  inneres  Wesen,  die  geheime  Seele,  die  öfter  schweigt 
als  spricht.  So  wurde  für  mich  jeder  ruhende  und  jeder  bewegte 
Punkt  (=  Linie)  ebenso  lebendig  und  offenbarte  mir  seine  Seele. 
Die  war  für  mich  genug,  um  mit  meinem  ganzen  Wesen,  mit  meinen 
sämtlichen  Sinnen  die  Möglichkeit  und  das  Dasein  der  Kunst  zu 
begreifen,  die  heute  im  Gegensatz  zur  ,  Gegenständlichen'  die  ,Ab- 
strakte*  genannt  wird.» 


200 


fcv 


Interview  Nierendorf- Kandinsky 


1937  bat  der  Kunsthändler  Karl  Nierendorf,  der  Kandinsky  in  den 
USA  vertrat,  um  ein  Interview,  das  hier  wörtlich  wiedergegeben 
ist.  Karl  Nierendorf  starb  1948  in  New  York. 


1 .  Datum  des  ersten  abstrakten  Bildes? 

1911,  also  vor  26  Jahren.  Abstraktes  Aquarell  bereits  1910. 

2.  Wie  kamen  Sie  auf  den  «abstrakten»  Gedanken  in  der  Malerei? 

Schwer  zu  sagen.  Schon  in  sehr  jungen  Jahren  fühlte  ich  die  uner- 
hörte Ausdruckskraft  der  Farbe.  Ich  beneidete  die  Musiker,  die  Kunst 
machen  können  ohne  etwas  «Realistisches»  zu  «erzählen».  Die  Farbe 
schien  mir  aber  ebenso  ausdrucksvoll  und  stark  zu  sein,  wie  es  der 
Klang  ist.  Mit  etwa  20  Jahren  wurde  ich  von  einem  wissenschaftlichen 
Institut  der  Moskauer  Universität  nach  dem  Gouvernement  Wologda 
geschickt  (Nord-Ost  im  europäischen  Rußland)  zu  juristischen  und 
ethnographischen  Forschungen.  Dort  sah  ich  Bauernhäuser,  die  innen 
vollständig  ausgemalt  waren  -  ungegenständlich.  Ornamentik, 
Möbelstücke,  Geschirr,  alles  bemalt.  Ich  hatte  den  Eindruck,  ich 
trete  in  die  Malerei  hinein,  die  nichts  «erzählt».  Nach  ein  paar  Jahren 
sah  ich  eine  große  Impressionisten- Ausstellung  in  Moskau,  die  teils 
sehr  bekämpft  wurde,  weil  die  Maler  «den  Gegenstand  schlampig 
behandelten».  Ich  hatte  aber  den  Eindruck,  hier  käme  die  Malerei 
selbst  in  Vordergrund,  und  fragte  mich,  ob  man  nicht  noch  viel 
weiter  auf  diesem  Wege  gehen  könnte.  Seitdem  sah  ich  die  russische 
Ikonenmalerei  mit  andern  Augen,  das  heißt  ich  «bekam  Augen»  für 
das  Abstrakte  in  dieser  Malerei.  1906  sah  ich  zum  ersten  Mal  die 


202 


früheren  Bilder  von  Matisse,  die  auch  sehr  bekämpft  wurden  -  aus 
demselben  Grund,  wie  die  Impressionisten  in  Moskau.  Ich  stellte 
mir  sehr  ermutigt  wieder  die  Frage,  ob  man  den  «Gegenstand»  nicht 
nur  reduzieren,  «verzeichnen»  könne,  sondern  überhaupt  ganz  be- 
seitigen. So  ging  ich  über  den  «Expressionismus»  zur  abstrakten 
Malerei  über  -  langsam,  durch  unendlich  viele  Versuche,  Verzweif- 
lung, Hoffnung,  Entdeckungen. 

Sie  sehen,  daß  ich  nie  etwas  mit  dem  Kubismus  zu  tun  hatte.  Als  ich 
zum  ersten  Mal  Photos  nach  kubistischen  Picassos  sah  (1912),  war 
mein  erstes  abstraktes  Bild  schon  gemalt. 

3.  Es  wird  oft  behauptet,  die  abstrakte  Kunst  hätte  nichts  mehr  mit  der  Natur 
!£u  tun.  Finden  Sie  das  auch? 

Nein !  Und  nochmals  nein !  Die  abstrakte  Malerei  verläßt  die  «Haut» 
der  Natur,  aber  nicht  ihre  Gesetze.  Erlauben  Sie  mir  das  «große  Wort», 
die  kosmischen  Gesetze.  Die  Kunst  kann  nur  dann  groß  sein,  wrenn  sie 
in  direkter  Verbindung  mit  kosmischen  Gesetzen  steht  und  sich  ihnen 
unterordnet.  Diese  Gesetze  fühlt  man  unbewußt,  wenn  man  sich  nicht 
äußerlich  der  Natur  nähert,  sondern  -  innerlich  -  man  muß  die  Natur 
nicht  nur  sehen,  sondern  erleben  können.  Wie  Sie  sehen,  hat  das  mit  dem 
Benutzen  des  «Gegenstandes»  nichts  zu  tun.  Absolut  gar  nichts! 
Ich  habe  darüber  in  den  Cahiers  a" Art  auf  Bitte  von  M.  Zervos  ge- 
schrieben. 

Wenn  der  Künstler  äußere  und  innere  Augen  für  die  Natur  hat,  be- 
dankt sie  sich  bei  ihm  durch  «Inspiration». 

4.  Es  wird  ebenso  nicht  selten  behauptet,  daß  der  «abstrakte  Maler»  aus- 
schließlich «kopfmäßig»  arbeitet.  Stimmtest 


203 


Es  kommt  nicht  selten  vor,  daß  es  stimmt.  Aber  .  .  .  nicht  seltener 
kommt  es  auch  bei  «gegenständlichen»  und  «realistischen»  Malern  vor. 
Der  «Kopf»  ist  ein  notwendiger  und  wichtiger  «Körperteil»  bei  dem 
Menschen,  aber  nur  in  organischer  Verbindung  mit  dem  «Herz», 
oder  «Gefühl»  -  nennen  Sie  es,  wie  Sie  wollen.  Ohne  diese  Verbin- 
dung ist  der  «Kopf»  die  Quelle  aller  Gefahren  und  aller  Verderben. 
Auf  allen  Gebieten.  Also  auch  in  der  Kunst.  In  der  Kunst  sogar  noch 
mehr:  es  gab  große  Künstler  «ohne  Kopf».  Aber  ohne  «Herz»  nie. 
Zu  großen  Epochen  und  bei  großen  Künstlern  gab  es  immer  die 
organische  Verbindung  zwischen  Kopf  und  Herz  (Gefühl).  Nur  zu 
Zeiten  der  größten  Verwirrungen,  wie  wir  es  heute  haben,  kann  der 
armselige  Gedanke  entstehen,  daß  Kunst  durch  Kopf  allein  zu  er- 
reichen wäre.  Es  scheint  mir  aber,  daß  dieser  armselige  Gedanke 
bereits  tot  ist.  Henri  Rousseau  dachte,  daß  seine  besten  Werke  ihm 
von  seiner  «verstorbenen  Frau»  diktiert  wurden.  Mag  sein!  Jeden- 
falls kommt  die  Kunst  ohne  ein  «inneres  Diktat»  nicht  zur  Welt. 
«Intuition» ! 

5.  Welchen  Widerhall  fanden  Sie  bei  Ihren  ersten  abstrakten  Werken  in  der 
Öffentlichkeit? 

Ich  stand  damals  vollkommen  allein  da,  weil  meine  Malerei  auf  die 
leidenschaftlichste  Weise  abgelehnt  wurde.  Was  ich  an  Beschimp- 
fungen zu  hören  bekam,  ist  tatsächlich  phantastisch.  «Talentloser 
Schwindler»  war  der  Lieblingsausdruck.  Später  hat  mein  Berliner 
Kunsthändler,  Herwarth  Waiden,  einen  Prozeß  gegen  einen  deut- 
schen Kritiker  geführt,  der  mich  den  Gründer  einer  neuen  Kunst- 
richtung mit  Namen  «Idiotismus»  nannte.  Aber  auch  noch  heute  gibt 


204 


es  hie  und  da  «Kritiker»,  die  zu  beweisen  suchen,  daß  die  abstrakte 
Malerei  «nicht  möglich  ist».  Sie  wissen  ja,  daß  diese  Meinung  nicht 
nur  «Kritiker»  teilen. 

Meiner  Meinung  nach  ist  diese  konsequente  Bekämpfung  der  ab- 
strakten Kunst,  eine  Bekämpfung,  die  über  25  Jahre  dauert,  der 
beste  Beweis  für  die  Notwendigkeit  und  große  Kraft  der  abstrakten 
Kunst.  Was  glatt  und  schnell  vor  sich  geht,  ist  immer  eine  Null. 
6.  Was  denken  Sie  von  amerikanischen  «Möglichkeiten»  ? 
Ich  war  noch  nie  in  Amerika,  aber  alles,  was  ich  von  hier  aus  sehe 
und  höre,  ist  oft  erfreulich.  Amerika  ist  ein  junges  Riesenland,  das 
mich  oft  an  Rußland  erinnert  -  dieselbe  Kompliziertheit,  Mannig- 
faltigkeit, Liebe  zum  Lebendigen,  Freien  und  zum  Neuen  ...  im 
guten  Sinn. 

Die  Amerikaner  haben  die  beneidenswerte  Frische  behalten,  die  hier 
bei  uns  viel  zu  selten  vorkommt.  Natürlich  gibt  es  überall  -  in 
Amerika  wie  in  Europa  -  «Modernisten»,  das  heißt  Menschen,  die 
große  Angst  haben,  «zurückzubleiben»  und  deshalb  sich  zu  allem 
Neuen  mit  Begeisterung  bekennen.  Sie  vergessen  dabei,  wieviel  von 
solchen  Neuigkeiten  im  Laufe  der  letzten  20  bis  30  Jahren  ein  «Leer- 
lauf» war.  Aber  ohne  «Entgleisungen»  kommt  man  nicht  weiter  -  viel- 
leicht ein  bittres,  aber  ewiges  «Naturgesetz».  Man  sagt  ja:  «nur  der 
irrt  nicht,  der  nichts  tut».  Ich  meine  aber:  der  irrt  am  meisten. 


205 


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VS 


Konkrete  Kunst 


1938  gründete  Gualtieri  di  San  Lazzaro  in  Paris  die  Zeitschrift 
XXe  Sikle.  In  der  ersten  Nummer  (1/1938)  erschien  ein  Aufsatz 
von  Kandinsky:  «Konkrete  Kunst»,  wiederum  eine  Rechtfertigung 
seiner  künstlerischen  Mittel.  Erstmals  erklärt  hier  Kandinsky, 
weshalb  er  nun  seine  Kunst  ebenfalls  «konkret»  nennt,  nachdem 
van  Doesburg,  und  in  dessen  Gefolge  Arp  und  Bill,  den  Begriff 
«konkrete  Kunst»  (1930/1936)  eingeführt  und  theoretisch  unter- 
baut hatten. 


Alle  Künste  kommen  aus  der  gleichen  und  aus  einer  einzigen  Wurzel. 
Folglich  sind  alle  Künste  identisch. 

Aber  das  geheimnisvolle  und  kostbare  ist,  daß  die  aus  demselben 
Stamm  herrührenden  «Früchte»  verschieden  sind.  Die  Verschiedenheit 
entsteht  durch  die  Mittel  jeder  einzelnen  Kunst  -  durch  die  Mittel 
des  Ausdrucks. 

Das  ist  sehr  einfach  im  ersten  Moment.  Die  Musik  drückt  sich  durch 
den  Ton  aus,  die  Malerei  durch  die  Farbe,  undsoweiter.  Allgemein 
bekannte  Dinge. 

Aber  die  Unterschiede  endigen  nicht  hier.  Die  Musik,  zum  Beispiel, 
braucht  für  ihre  Mittel  (die  Klänge)  die  Zeit  und  die  Malerei  braucht 
für  die  ihrigen  (die  Farben)  die  Fläche.  Zeit  und  Fläche  müssen  genau 
«bemessen»  sein  und  Klang  und  Farbe  müssen  genau  «begrenzt» 
sein  -  diese  «Begrenzungen»  sind  die  Grundlage  des  «Gleichgewichtes» 
und  also  der  Komposition. 

Rätselhafte  Gesetze,  in  der  Komposition  aber  von  großer  Bestimmt- 
heit, zerstören  die  Unterschiede,  weil  diese  Gesetze  in  allen  Künsten 
dieselben  sind. 


207 


Nebenbei  möchte  ich  sehr  unterstreichen,  daß  der  «organische  Unter- 
schied» von  Zeit  und  Fläche  im  allgemeinen  übertrieben  wird.  Der 
Komponist  nimmt  den  Zuhörer  bei  der  Hand,  läßt  ihn  in  sein  musi- 
kalisches Werk  eindringen,  führt  ihn  Schritt  für  Schritt  und  verläßt 
ihn,  wenn  «das  Stück»  zu  Ende  ist.  Die  Führung  ist  vollkommen. 
Sie  ist  unvollkommen  in  der  Malerei.  Aber!  .  .  .  Der  Maler  kann 
sich  ihrer  ebenfalls  bedienen.  Er  kann,  wenn  er  will,  den  Beschauer 
zwingen,  «hier»  anzufangen,  einen  genauen  Weg  in  seinem  Bild  zu 
verfolgen  und  es  «dort»  zu  verlassen.  Das  sind  außerordentlich  kom- 
plizierte Fragen,  noch  sehr  wenig  bekannt  und  vor  allem  wenig  ab- 
geschlossen. Ich  wollte  nur  sagen,  daß  die  Verwandtschaft  zwischen 
der  Malerei  und  der  Musik  offensichtlich  ist.  Aber  sie  offenbart  sich 
noch  tiefer.  Sie  kennen  sicher  die  Frage  der  «Assoziationen»,  hervor- 
gerufen durch  die  Mittel  der  verschiedenen  Künste  ?  Einige  Wissen- 
schafter (vor  allem  die  Physiker)  und  einige  Künstler  (vor  allem  die 
Musiker)  haben  seit  langem  schon  beobachtet,  daß  zum  Beispiel  ein 
musikalischer  Klang  die  Assoziation  einer  bestimmten  Farbe  hervor- 
ruft. (Siehe  die  festgelegten  Übereinstimmungen  von  Skrjabin.)  Anders 
ausgedrückt:  Sie  «hören»  die  Farbe  und  Sie  «sehen»  den  Ton. 
Es  werden  bald  30  Jahre  sein,  daß  ich  ein  kleines  Buch  veröffentlicht 
habe,  welches  diese  Frage  ebenfalls  behandelt,  («Über  das  Geistige  in 
der  Kunst»,  München  1912).  Das  Gelb  zum  Beispiel  hat  die  spezielle 
Fähigkeit  zu  «Steigen»,  immer  höher,  bis  es  für  Ohr  und  Geist  uner- 
trägliche Höhen  erreicht:  der  Ton  einer  Trompete,  immer  höher 
gespielt,  immer  «zugespitzter»  tut  Ohr  und  Geist  weh.  Das  Blau  hin- 
gegen, mit  seiner  entgegengesetzten  Kraft  des  «Niedersteigens»  in 


208 


unendliche  Tiefen  assoziiert  den  Ton  der  Flöte  (wenn  das  Blau  hell  ist), 
denjenigen  des  Cello  (wenn  es  dunkler  wird,  «herabsteigt»)  schließlich 
jenen  großartigen  tiefen  Ton  des  Kontra-Basses  und  endlich:  «sehen» 
Sie  in  den  tiefsten  Orgeltönen  die  Tiefen  des  Blau.  Das  gut  ausge- 
wogene Grün  entspricht  den  mittleren  und  breiten  Tönen  der  Geige. 
Richtig  aufgesetzt,  kann  Rot  (Zinnober)  den  Eindruck  starker  Trom- 
melschläge vermitteln,  undsoweiter. 

Die  Vibrationen  der  Luft  (der  Ton)  und  des  Lichts  (die  Farbe)  bilden 
sicher  die  Grundlage  dieser  physischen  Verwandtschaft. 
Aber  das  ist  nicht  die  einzige  Grundlage.  Es  gibt  noch  eine  andere : 
die  psychologische  Grundlage.  Problem  des  «Geistes». 
Haben  Sie  Ausdrücke  gehört,  oder  haben  Sie  sie  selbst  gebraucht,  wie : 
«Oh,  welch  kalte  Musik!»  oder:   «Oh,  welch  eisige  Malerei!»    Sie 
haben  das  Gefühl  von  eisiger  Luft,  wie  sie  im  Winter  durch  ein  offenes 
Fenster  hereindringt.  Und  ihr  ganzer  Körper  ist  unzufrieden. 
Plötzlich  aber  wird  Ihnen  heiß  -  weil  der  Maler  oder  der  Komponist 
durch  die  richtige  Anwendung  von  warmen  Tönen  und  Klängen 
«warme»  Werke  geschaffen  hat.  Es  brennt  Sie  direkt.  Verzeihen  Sie 
mir,  aber  es  sind  wirklich  Malerei  und  Musik,  welche  Ihnen  (selten 
immerhin)  Leibweh  machen  können. 

Sie  kennen  sicher  auch  den  Fall,  daß  Ihr  Finger,  wenn  er  im  Geist 
auf  einigen  Klang-  oder  Farbverbindungen  «spazieren»  geht,  plötzlich 
wie  von  Dornen  «gestochen»  wird.  Ein  ander  Mal  aber  «spaziert» 
Ihr  Finger  auf  Malerei  und  Musik  wie  auf  Samt  oder  Seide. 
Und  endlich  -  ist  zum  Beispiel  das  Violett  nicht  anders  duftend  als  das 
Gelb?  Und  das  Orange?  Das  helle  Grün-Blau? 


209 


Und  im  «Geschmack»,  sind  sie  nicht  verschieden,  diese  Farben  ?  Welch 
schmackhafte  Malerei !  Die  Zunge  beginnt  teilzunehmen  am  Kunst- 
werk. Und  damit  haben  wir  die  fünf  bekannten  Sinne  des  Menschen. 
Täuschen  Sie  sich  nicht,  glauben  Sie  nicht,  daß  Sie  die  Malerei  nur 
durch  das  Auge  aufnehmen.  Nein,  Sie  nehmen  sie  unbewußt  durch 
Ihre  fünf  Sinne  auf. 

Was  man  in  der  Malerei  unter  dem  Wort  «Form»  versteht,  ist  nicht 
die  Farbe  allein.  Was  man  die  «Zeichnung»  nennt,  ist  ein  anderer 
unumgänglicher  Teil  der  malerischen  Ausdrucksmittel. 
Und,  beginnend  mit  dem  «Punkt»,  der  Urform  aller  anderen  Formen, 
deren  Zahl  unendlich  ist  -  dieser  kleine  Punkt  ist  ein  lebendes  Sein, 
welches  die  vielfältigsten  Einflüsse  auf  den  Geist  des  Menschen 
besitzt.  Wenn  der  Künstler  ihn  gut  auf  die  Leinwand  setzt,  ist  der 
kleine  Punkt  befriedigt  und  befriedigt  den  Beschauer.  Er  sagt:  «Ja, 
das  bin  ich  -  hörst  Du  meinen  kleinen  notwendigen  Klang  in  dem 
großen  ,Chorc  des  Werkes  ?» 

Und  wie  ist  es  peinlich,  diesen  kleinen  Punkt  dort  zu  sehn,  wo  er  nicht 
sein  sollte !  Sie  haben  den  Eindruck,  Schlagrahm  zu  essen  und  Pfeffer 
auf  der  Zunge  zu  spüren.  Eine  Blume  mit  Modergeruch.  Vermoderung 
-  das  ist  das  Wort !  Die  Komposition  verwandelt  sich  in  Zersetzung. 
Das  ist  der  Tod. 

Haben  Sie  bemerkt,  obschon  lange  von  der  Malerei  und  ihrem  Aus- 
drucksmitteln gesprochen  wurde,  habe  ich  nicht  ein  einziges  Wort 
über  den  «Gegenstand»  gesagt?  Die  Erklärung  ist  sehr  einfach:  ich 
habe  von  den  wesentlichen  malerischen  Mitteln  gesprochen,  das  heißt 
von  den  unumgänglichen. 


210 


Man  wird  niemals  die  Möglichkeit  haben,  ohne  «die  Farbe»  und  ohne 
«die  Zeichnung»  ein  Bild  zu  schaffen,  aber  die  Malerei  ohne  Gegen- 
stände existiert  in  unserm  Jahrhundert  seit  mehr  als  30  Jahren.  Also 
kann  der  Gegenstand  in  der  Malerei  angewandt  werden  oder  nicht. 
Wenn  ich  an  all  diese  Debatten  um  dieses  «nicht»  denke,  an  die  De- 
batten, die  vor  30  Jahren  begannen  und  die  heute  noch  nicht  beendet 
sind,  so  sehe  ich  die  immense  Kraft  der  als  «abstrakt»  oder  «unge- 
genständlich» bezeichneten  Malerei,  die  ich  vorziehe  «konkret»  zu 
nennen. 

Diese  Kunst  ist  ein  «Problem»,  das  man  zu  oft  begraben  wollte,  das  man 
als  definitiv  gelöst  meldete  (im  negativen  Sinne  natürlich),  und  -  das 
sich  nicht  begraben  läßt.  Es  ist  zu  lebendig. 

Im  Impressionismus,  im  Expressionismus  und  Kubismus  existieren 
keine  Probleme  mehr.  Alle  diese  «Ismen»  sind  in  verschiedene  Schub- 
fächer der  Kunstgeschichte  verteilt.  Diese  sind  numeriert  und  tragen 
ihren  Inhalt  anzeigende  Etiketten.  Und  so  sind  die  Debatten  zu  Ende. 
Es  ist  Vergangenheit. 

Aber  die  Debatten  um  die  Konkrete  Kunst  lassen  ihr  Ende  nicht  vor- 
aussehen. Um  so  besser!  Die  Konkrete  Kunst  ist  in  voller  Entwick- 
lung, vor  allem  in  den  freien  Ländern,  und  die  Zahl  der  jungen  Künst- 
ler, die  an  dieser  Bewegung  teilhaben,  steigt  in  all  diesen  Ländern. 
Dies  ist  die  Zukunft ! 


211 


abstrakt  oder  konkret  ? 


«abstrakt  oder  konkret»  ist  ein  Text,  den  Kandinsky  schrieb  für 
den  Katalog  der  Tcntoonstelling  abstracte  Kunst  im  Stedclijk  Museum, 
Amsterdam,  1938. 


Heute  zählt  die  sogenannte  abstrakte  Malerei  schon  mehr  als  25  Jahre 
ihres  Lebens. 

Diese  Tatsache  allein  widerlegt  eine  Menge  der  «Vorwürfe»,  die  dieser 
Malerei  besonders  zu  Anfang  von  allen  Seiten  temperamentvoll  ge- 
macht wurden. 

Hier  will  ich  nur  den  wesentlichsten  der  Vorwürfe  berühren.  Es  wurde 
nämlich  behauptet  (was  auch  noch  heute  manchmal  vorkommt), 
die  Ausdrucksmittel  der  abstrakten  Malerei  wären  so  beschränkt,  so 
schnell  zu  erschöpfen,  daß  diese  Form  sich  selbst  das  Todesurteil 
ausspricht.  Deshalb  wurde  die  abstrakte  Malerei  wiederholt  zu  Grabe 
getragen. 

Mangel  an  Ausdrucksmöglichkeiten?  Es  wäre  schlimm!  An  dieser 
Stelle  kann  ich  die  theoretische  Widerlegung  der  schlimmen  Be- 
hauptung weglassen.  Wozu  die  Theorie,  wenn  wir  diese  vom  Amster- 
damer Gemeindemuseum  veranstaltete  Ausstellung  vor  Augen  haben? 
Diese  Ausstellung  spricht  nicht  mit  Worten,  sondern  mit  Taten  und 
beweist,  daß  die  abstrakte  Form  nach  jeder  «Grablegung»  immer  und 
immer  an  Kraft,  Ausdruck  und  unbegrenzten  Möglichkeiten  zunahm. 
Ausdrucksmöglichkeiten ! 

Was  kann  und  soll  die  Kunst  überhaupt  und  die  Malerei  insbesondere 
zum  Ausdruck  bringen  ? 


213 


Komplizierte  Frage,  auf  die  die  Antwort  einfach  ist. 
Zum  Ausdruck  wird  bei  jedem  neuen  echten  Werk  eine  neue,  noch 
nie  dagewesene  Welt  gebracht.  Also  ist  jedes  echte  Werk  eine  Neu- 
entdeckung -  neben  die  bereits  bekannten  Welten  wird  eine  neue, 
bis  dahin  unbekannte  Welt  gestellt.  Darum  sagt  jedes  echte  Werk  «Da 
bin  ich!» 

Ein  wesentlicher  Augenblick.  Hier  ist  an  der  Zeit,  die  Frage  zu  stellen, 
wie  (Formfrage!)  ein  realistisches,  ein  naturalistisches,  ein  kubisti- 
sches,  ein  surrealistisches  Werk  (bitte  zählen  Sie  sich  die  sämtlichen 
übrigen  «Ismen»  selbst  auf)  im  Vergleich  zum  abstrakten  Werk  zu- 
stande kommt. 

In  jedem  mehr  oder  weniger  «naturalistischen»  Werk  wird  ein  Teil  der 
bereits  existierenden  Welt  entliehen  (Mensch,  Tier,  Blume,  Guitarre, 
Pfeife  .  .  .)  und  unter  das  Joch  des  künstlerischen  Ausdrucks  gebogen. 
Zeichnerische  und  malerische  «Verarbeitung»  des  «Gegenstandes». 
Die  abstrakte  Kunst  verzichtet  auf  Gegenstände  und  ihre  Verar- 
beitung. Sie  schafft  sich  die  Ausdrucksformen  selbst. 
Wie  dies  geschieht,  ist  eine  komplizierte  Frage.  Ich  könnte  nur  eins 
sagen:  meiner  Überzeugung  nach  soll  dieser  schöpferische  Weg  ein 
synthetischer  sein.  Das  heißt,  Gefühl  («Intuition»)  und  Kopf  («Be- 
rechnung») arbeiten  unter  gegenseitiger  «Kontrolle».  Dies  kann  auch 
verschieden  gemacht  werden.  Was  mich  anlangt,  ziehe  ich  vor, 
während  der  Arbeit  nicht  zu  «denken».  Es  ist  nicht  ganz  unbekannt, 
daß  ich  nicht  wenig  an  theoretischen  Kunstdingen  «geprüft»  habe. 
Aber:  wehe  dem  Künstler,  der  sein  «inneres  Diktat»  während  der 
Arbeit  «kopfmäßig»  stört. 


214 


So  stellt  die  abstrakte  Kunst  neben  die  «reale»  Welt  eine  neue,  die 
äußerlich  nichts  mit  der  «Realität»  zu  tun  hat.  Innerlich  unterliegt 
sie  den  allgemeinen  Gesetzen  der  «kosmischen  Welt». 
So  wird  neben  die  «Naturwelt»  eine  neue  «Kunstwelt»  gestellt  -  eine 
ebenso  reale  Welt,  eine  konkrete.  Deshalb  ziehe  ich  persönlich  vor, 
die  sogenannte  «abstrakte»  Kunst  Konkrete  Kunst  zu  nennen. 


215 


Meine  Holzschnitte 

In  No  3/1938  druckte  XXe  Sihle,  Paris,  einige  farbige  Holz- 
schnitte nach,  die  Kandinsky  25  Jahre  vorher,  hauptsächlich  für 
Klänge,  gemacht  hatte.  Sein  Begleittext  gibt  Aufschluß  über  die 
Entstehungsgeschichte  seiner  Holzschnitte  und  den  Sinn  seiner 
poetischen  Texte. 

Schon  während  vieler  Jahre  schreibe  ich  von  Zeit  zu  Zeit  «Gedichte 
in  Prosa»  und  manchmal  sogar  «Verse». 

Dies  ist  für  mich  ein  «Wechsel  des  Instruments»  -  zur  Seite  die  Palette 
und  an  ihrem  Platz  die  Schreibmaschine.  Ich  sage  «Instrument»,  weil 
die  Kraft,  die  mich  zur  Arbeit  treibt,  immer  dieselbe  bleibt,  das  heißt 
ein  «innerer  Druck».  Und  diese  Kraft  ist  es,  die  von  mir  einen  Wechsel 
des  Instruments  verlangt. 

Oh!  ich  erinnere  mich  gut:  als  ich  anfing  «Poesie  zu  machen»,  da 
wußte  ich,  daß  ich  als  Maler  verdächtig  werden  würde. 
Einst  schaute  man  den  Maler  «schief»  an,  der  schrieb  -  selbst  wenn  es 
Briefe  waren.  Man  wollte  fast,  daß  er  nicht  mit  der  Gabel,  sondern 
mit  dem  Pinsel  essen  würde. 

Das  war  eine  strenge  Zeit,  voll  von  genauen  «Einteilungen»  und  sehr 
einfach  in  ihrer  Logik.  Wenn  der  Theoretiker  denkt,  ohne  malen 
zu  können,  dann  soll  der  Maler  malen,  ohne  denken  zu  können. 
Das  war  die  Zeit  der  «analytischen»  Welt,  der  definitiv  abgegrenzten 
Spezialgebiete,  deren  «Grenzen»  zu  überschreiten  man  kein  Recht  be- 
saß. Ein  Zustand,  der  heute  zwischen  den  verschiedenen  Nationen 
und  Ländern  besteht.  Die  strenge  Teilung  ist  vom  Bereich  des  «Gei- 
stes» auf  den  der  «Realitäten»  übergegangen. 


216 


Diese  «analytische  Welt»  in  der  Kunst,  der  Wissenschaft  undsoweiter, 
ist  seither  tieferschüttert  worden;  man  hat  heute  diese  Standpunkte 
beinahe  verlassen.  Es  ist  unvorsichtig  und  ein  Unglück,  die  Augen  zu 
schließen  vor  einigen  Tatsachen  (man  könnte  sagen  «Ereignissen»), 
die  uns  umgeben  und  die  uns  gegen  die  Freiheit  der  Synthese  treiben. 
Um  so  schlimmer  für  die,  die  den  Weg  verriegeln  wollen. 
Es  wäre  jedoch  übertrieben  optimistisch,  zu  glauben,  daß  die  analyti- 
sche Zeit  verschwunden  wäre  und  definitiv  ersetzt  wäre  durch  die 
Synthese.  Es  ist  noch  weit  bis  zu  ihrem  Verschwinden,  und  sie  macht 
alles,  um  die  Entwicklung  der  kleinen  Wurzel  der  Synthese  zu  ver- 
hindern. Meinetwegen!  Alle  «Taten»,  und  vor  allem  die  «Ereignisse», 
entwickeln  sich  langsam  -  die  Wurzel  braucht  ihre  Zeit,  um  recht  in 
die  Tiefe  vorzustoßen  und  die  nötigen  Kräfte  zu  gewinnen,  um  ihre 
Pflanze  ernähren  zu  können.  Kurze  Wurzel  -  kurzes  Leben  der 
Pflanze.  Und  es  gibt  gar  keinen  Unterschied  zwischen  der  Pflanze  der 
«Natur»  und  der  der  Natur  im  umfassenden  Sinn. 
Mein  Buch  Klänge,,  erschienen  in  München  im  Jahr  1913  (Verlag 
R.  Piper  &  Cie).  Das  war  ein  kleines  Beispiel  synthetischer  Arbeit. 
Ich  habe  die  Gedichte  geschrieben  und  habe  sie  «geschmückt»  mit 
zahlreichen  farbigen  und  Schwarzweiß-Holzschnitten.  Mein  Verleger 
war  ziemlich  skeptisch,  aber  er  hatte  dennoch  den  Mut,  eine  Luxus- 
ausgabe zu  machen;  mit  besonderen  Anfangsbuchstaben,  handge- 
machtes holländisches  Papier,  durchsichtig,  ein  kostbarer  Einband 
mit  Golddruck  undsoweiter.  Kurz,  eine  Luxusausgabe  von  300  Exem- 
plaren, signiert  und  numeriert  durch  den  Autor.  Aber  sein  Mut  gab 
ihm  eine  vollständige  Befriedigung.  Das  Buch  war  schnell  vergriffen. 


217 


Gemäß  unserem  Kontrakt  hatte  weder  er  noch  ich  das  Recht,  eine 
neue  Auflage  herauszugeben.  So  kann  ich  nur  Fragmente  des  Buches 
veröffentlichen. 

Hier  also  sechs  Holzschnitte.  In  diesen  Holzschnitten  wie  in  den 
übrigen -Holzschnitten  und  Gedichten -findet  man  die  Spuren  meiner 
Entwicklung  vom  «Figurativen»  zum  «Abstrakten»  («Konkreten» 
nach  meiner  Terminologie  -  exakter  und  ausdrucksvoller  als  der  ge- 
wöhnliche Ausdruck  -  wenigstens  meiner  Meinung  nach). 
Der  größte  der  drei  Farbholzschnitte  ist  nicht  im  Buch  erschienen. 
Er  stammt  aus  dem  Jahr  1908. 

25  Jahre:  das  ist  nach  der  Statistik  eine  Zeit,  die  genügt,  damit  eine 
neue  Generation  auf  die  Welt  kommt  und  reift. 

Es  ist  mir  eine  Freude,  Ihnen  meine  ehemaligen  Anstrengungen  zu 
zeigen. 


218 


«Stabilite  Animee» 

1938  schrieb  ich  als  Antwort  auf  unqualifizierte  Angriffe  auf  unsere 
Kunst  einen  Aufsatz  «Über  konkrete  Kunst»  für  das  Werk  (Zürich, 
No  8/1938).  Ich  bat  verschiedene  meiner  älteren  Kollegen  um 
kurze  Beiträge  zu  je  einer  Abbildung.  Es  schrieben  Kandinsky, 
Mondrian  und  Vantongerloo.  Kandinskys  Text  war  begleitet  von 
einem  gezeichneten  Schema  zum  Bild  «Stabilite  animc»  (1935). 
Ich  benützte  den  Text  nicht.  Weil  keine  Möglichkeit  bestand,  das 
Bild  farbig  zu  reproduzieren,  erschien  es  mir  besser,  dieses  Bild 
und  den  Text  durch  etwas  anderes  zu  ersetzen.  Hier  ist  die  damalige 
Analyse  wiedergegeben  zusammen  mit  der  schematischen  Zeich- 
nung. Das  Bild  ist  heute  farbig  zugänglich  im  Buch  von  Henry 
Rüssel  Hitchcock :  Painting  Torvard Architecture  über  die  «Miller  Com- 
pany Collection  of  Abstract  Art»,  1948,  New  York,  Duell,  Sloan 
and  Pearce. 

Nachträgliche  kur^e  Analyse. 

Steifer  schematischer  Aufbau:  zwei  betonte  Vertikale.  Oben  rechts 
ein  Kreis  -  eine  Form,  die  gleichzeitig  hart  und  weich,  steif  und 
locker  ist,  kon-  und  exzentrische  Spannungen  aufweist.  In  diesem 
Fall  wird  die  konzentrische  Spannung  durch  die  tief-violette  Farbe 
des  Kreises  und  die  benachbarte  grüne  Farbe  unterstrichen.  Das  etwas 
giftige  Grün  vergrößert  die  violette  Vertiefung,  und  damit  das  Kon- 
zentrische. 

Die  Zusammenstellung  der  beiden  Farben  und  die  Zusammenstellung 
von  Rund  und  Eckig  bilden  an  dieser  Stelle  den  stärksten  Akzent 
des  Bildes. 

Die  «Verschiebungen»  sind  sparsam  angewandt:  einige  schiefgestellte 
viereckige  und  ovale  Formen.  Darunter  das  große  rote  Viereck  links 
unten. 
Die  Zusammenstellung  von  Weiß,  Schwarz  und  Rot  bildet  im  roten 


219 


Viereck  den  zweiten  Akzent,  wozu  hauptsächlich  die  «schiefe»  Lage 
des  Vierecks  beiträgt. 

Die  beiden  Akzente  weisen  eine  unsichtbare  Spannung  zwischen  ihnen 
auf  (siehe  punktierte  Linie  auf  der  Skizze!).  Diese  Hauptspannung 
geht  in  diagonaler  Richtung  und  lockert  dadurch  die  größeren  und 
kleineren  horizontal-vertikalen  Spannungen. 

Die  drei  langen  viereckigen  Formen  (von  links  nach  rechts:  weiß, 
schwarz  und  grün)  bekommen  als  kleinere  Gegensätze  hauptsächlich 
dünne  horizontale  und  sehr  wenige  diagonale  Linien.  So  entstehen 
mehrere  milde  Spannungen. 

Einige  «freie»  Formen  und  schließlich  die  untere  scharfe  Spitze  er- 
höhen die  «Lockerung»,  dienen  zur  «Bereicherung»  des  steifen  Auf- 
baues und  erhöhen  die  «Pulsierung». 
So  wird  das  Hartstabile  «animiert». 


221 


Der  Wert  eines  Werkes  der  konkreten  Kunst 


1938  schrieb  Kandinsky  nochmals  eine  umfangreiche  Abhandlung 
für  XXe  Sihle  (Paris,  1939,  No  5-6/1  und  1-2/II):  «Der  Wert 
eines  Werkes  der  konkreten  Kunst».  Diese  ist  sowohl  nach  Um- 
fang wie  Inhalt  als  eine  letzte  Zusammenfassung  seiner  Theorien 
und  Ideen  zu  verstehen.  Bald  darnach  brach  der  Krieg  aus.  Einen 
kurzen  Text  ähnlicher  Art  schrieb  er  noch  als  Katalog -Vorwort 
einer  Ausstellung  in  der  von  Peggy  Guggenheim  in  London  neu 
eröffneten  Galerie. 


Legen  Sie  neben  einen  Apfel  noch  einen  Apfel.  Sie  werden  deren 
zwei  haben. 

Durch  diese  einfache  Addition  kommt  man  zu  Hunderten,  Tausenden 
von  Äpfeln,  und  die  Vermehrung  endet  nie.  Arithmetisches  Verfahren. 
Die  Addition  in  der  Kunst  ist  rätselhaft.  Gelb  -f  gelb  =  gelb2.  Geo- 
metrische Progression. 

Gelb  +  gelb  +  gelb  -j-  gelb  .  .  .  =  grau.  Das  Auge  ermüdet  von  zu- 
viel gelb :  physiologische  Begrenzung. 

So  wird  die  Vermehrung  zur  Verminderung  und  endigt  bei  null. 
Das  ist  «irrational»,  «unvernünftig». 

Mißtrauen  Sie  der  reinen  Vernunft  in  der  Kunst  und  versuchen  Sie 
nicht,  die  Kunst  zu  «verstehen»,  indem  Sie  dem  gefährlichen  Weg  der 
Logik  folgen. 

Weder  die  Vernunft  noch  die  Logik  können  Kunstfragen  austreiben, 
aber  ständige  Korrekturen  von  Seiten  des  «Irrationalen»  sind  uner- 
läßlich. Das  «Gefühl»  ist  es,  welches  das  «Hirn»  korrigiert. 
Diese  Feststellung  bezieht  sich  auf  die  Kunst  im  allgemeinen  -  ohne 
Unterscheidung  zwischen  «gegenständlicher»  und  «konkreter»  Kunst. 


223 


In  dieser  Hinsicht  zeigen  die  beiden  Arten  keinen  Unterschied.  Aber 
er  existiert  anderswo : 

Die  «gegenständliche»  Malerei:  der  Künstler  kann  nicht  vorübergehen 
am  Objekt  (oder  er  bildet  sich  ein,  es  nicht  zu  können).  Er  verwendet 
das  Objekt  als  «Vorwand»  zur  reinen  Malerei,  die  ihm  immer  wesent- 
licher ist  aJs  das  Objekt.  Der  Betrachter  kann  am  Objekt  nicht  vor- 
beigehen (oder  er  bildet  sich  ein,  es  nicht  zu  können),  um  die  Malerei 
zu  «verstehen». 

Die  konkrete  Malerei:  Der  Künstler  befreit  sich  vom  Objekt,  weil 
dieses  ihn  daran  hindert,  sich  ausschließlich  mit  rein  malerischen 
Mitteln  auszudrücken. 

Dem  Betrachter  ist  die  «Brücke»  entzogen,  die  ihm  die  Möglichkeit 
gibt,  an  die  reine  Malerei  heranzukommen,  und  wenn  er  gleichzeitig 
des  nötigen  Gefühls  enthoben  wird,  so  ist  er  aus  der  Fassung  ge- 
bracht. Er  bildet  sich  ein,  keinen  «Maßstab»  mehr  zu  haben,  um  die 
Kunst  schätzen  zu  können. 
Der  Unterschied : 

Die  «gegenständliche»  Malerei  stützt  sich  auf  einen  mehr  oder  weniger 
«literarischen»  Inhalt,  da  das  Objekt  (selbst  das  bescheidenste  und 
leiseste)  neben  der  reinen  Malerei  «spricht».  (Vergleichen  Sie  eine 
etwas  radikale,  aber  verständliche  Parallele:  Ein  Volkslied,  dessen 
Komposition  eine  einfache,  in  musikalischer  Form  gekleidete  Er- 
zählung ist,  wird,  der  Worte  beraubt,  monoton  und  schließlich  un- 
möglich. Auf  diese  Weise  wird  auch  die  «gegenständliche»,  in  mono- 
tone malerische  Formen  «gekleidete»  Malerei  nur  möglich,  wenn 
sie  fortwährend  das  Objekt  variiert.) 


224 


Die  konkrete  Malerei  stellt  eine  Art  Parallele  dar  zur  sinfonischen 
Musik,  indem  sie  einen  rein  künstlerischen  «Inhalt»  liefert.  Für  diesen 
Inhalt  sind  allein  die  rein  malerischen  Mittel  verantwortlich. 
Aus  dieser  ausschließlichen  Verantwortung  resultiert  die  Notwendig- 
keit einer  vollkommenen  Exaktheit  der  Komposition  und  ihres 
Gleichgewichts  (Valeurs,  Gewichte  der  «Formen»  und  «Flecken» 
undsoweiter)  sowie  der  «entschleierten»  Teile  der  Komposition  bis 
zum  letzten  Punkt.  Es  resultiert  daraus  auch  die  Möglichkeit  und  die 
Notwendigkeit  der  Phantasie  für  den  der  gewohnten  «Vorwände»  be- 
raubten Maler,  um  sich  frei  zu  entwickeln  und  ständig  neue  «Ent- 
deckungen» zu  liefern. 
Diese  Möglichkeiten  sind  unbegrenzt. 

So  wie  wir  gesehen  haben,  daß  in  der  Kunst  Vermehrung  leicht  zur 
Verminderung  wird,  so  sehen  wir  jetzt  den  entgegengesetzten  Fall, 
das  heißt  wie  eine  Verminderung  zu  einer  Vermehrung  wird.  Das 
unterdrückte  Objekt  vermindert  nicht  die  Ausdrucksmittel,  sondern 
es  multipliziert  sie  ins  Unendliche. 

Das  ist  künstlerische  Mathematik  -  im  Gegensatz  zur  Mathematik 
der  Wissenschaft. 

Aber  ...  die  Quantität  ist  noch  nicht  Qualität.  Dieser  Reichtum  der 
Ausdrucksmittel  der  konkreten  Malerei  muß  als  Grundlage  -  ich 
wiederhole  es  -  eine  einwandfreie  Exaktheit  besitzen.  Wie  ist  sie  zu 
messen?  Das  heißt  welches  ist  die  wahre  Methode,  um  den  Wert 
eines  Werkes  zu  bestimmen  ? 

Man  kommt  leicht  auf  die  Idee,  daß  dieser  Wert  festgelegt  werden 
könnte : 


225 


1.  durch  die  Kenntnis  der  konstanten,  für  den  Künstler  obligatori- 
schen Regeln  der  Malerei,  und 

2.  durch  den  Grad  der  Anwendung  dieser  Regeln  in  seinem  Werk. 
Wir  werden  sehen,  ob  diese  obligatorischen  Regeln  existieren  oder 
einst  existierten  und  ob  es  möglich  ist  oder  ob  es  einst  möglich  war, 
ihre  Realisierung  in  irgendeinem  Werk  zu  entdecken. 

Hier  einige  Beispiele  -  ziemlich  eindrückliche,  meiner  Meinung  nach. 
Die  ehemaligen  italienischen  Rezepte  verordneten  exakt  und  streng: 
«Wenn  du  einen  Fisch  im  Wasser  malen  willst,  muß  deine  erste  Schicht 
auf  der  Leinwand  so  und  so  sein  .  .  .  die  zweite  so  und  so  .  .  .»  «Willst 
du  einen  Greis  im  Schatten  malen,  so  sei  deine  erste  Schicht ...» 
So  kam  der  Maler,  scheint  es,  leicht  zu  einem  Werk  von  Wert,  und 
der  «Kenner»  hatte  die  volle  Möglichkeit,  ihn  zu  konstatieren.  Falsche 
Schichten  =  Malerei  ohne  Wert. 

Später,  nach  der  Entdeckung  der  Perspektive,  verloren  die  Schichten 
ihren  Kredit.  Man  endete  bei  dieser  neuen  Formel :  Falsche  Perspek- 
tive =  Malerei  ohne  Wert. 

Die  Wissenschaft  trat  ein  in  die  Kunst.  Und  da  das  vorzugsweise 
gebrauchte  Thema  der  «hohen»  Malerei  der  menschliche  Körper  war, 
wurde  das  Studium  der  Anatomie  unerläßlich  -  die  Konstruktion  des 
Knochengerüstes,  besonders  des  Schädels,  der  Nase,  der  Nasenflügel, 
die  Form  und  die  Funktion  der  Muskeln  undsoweiter.  Das  Zeichnen 
wird  eine  Wissenschaft,  und  die  Akademien  schreiben  vier  Jahre  Zei- 
chenstudien vor,  gefolgt  von  vier  weiteren  Jahren  eigentlicher  Mal- 
lehre. Eine  schöne  Methode,  die  viel  beigetragen  hat  zur  Produktion 
der  «Pompiers». 


226 


Und  man  war  vollständig  überzeugt  (wie  man  das  manchmal  noch 
heute  ist),  daß  diese  «konsequenten»  Studien  dem  jungen  Maler  den 
Wert  seiner  Leinwände  garantierten.  Ein  ziemlich  dramatischer 
Standpunkt  für  den  «Kenner»,  der  im  allgemeinen  nicht  die  geringste 
Idee  hatte  von  Anatomie.  Also  ein  sehr  rätselhaftes  Resultat! 
Unter  den  Tausenden  -  ja  wir  können  sogar  ohne  Befürchtung  sagen: 
Hunderttausenden  -  von  Leinwänden,  untadelig  vom  Gesichtspunkt 
der  Anatomie  und  der  Perspektive,  findet  man  im  allgemeinen  eine 
«quantite  negligeable»  von  Leinwänden,  die  im  Betrachter  einen 
tiefen  Eindruck  hinterlassen. 

Diese  korrekten  Leinwände  lassen  sich  mit  derselben  Leichtigkeit 
vergessen  wie  eine  nach  allen  Regeln  des  Konservatoriums  ausge- 
führte Musik,  die  man  vergißt,  im  Moment,  wo  man  den  Konzert- 
saal verläßt.  Oder  wie  ein  nach  allen  Regeln  der  Etymologie  und 
der  Syntax  geschriebenes  Buch,  das  man  schließt,  ohne  einem  ein- 
zigen Komma  nachzutrauern. 
Warum  ? 

Ließe  sich  dieses  Mysterium  nicht  aufklären  durch  die  Analyse  der 
Harmonie  des  Werkes?  Da  «die  Malerei  schön  ist,  wenn  sie  harmo- 
nisch ist». 

Diese  Frage  umfaßt  zwei  Seiten  der  Malerei  -  die  der  Farben  und  die 
der  Form  im  strengen  Sinn  (Zeichnung). 

Die  Harmonie  der  Farben.  Leonardo  da  Vinci  hatte  (nach  einer  authen- 
tischen Erzählung)  ein  System  von  kleinen,  verschieden  großen 
Löffeln  erfunden,  um  genau  die  Quantitäten  der  auf  einer  Leinwand 
verwendeten  Farben  zu  messen  -  ein  «exaktes»  Verhältnis  von  Blau, 


227 


Violett,  Weiß  undsoweiter.  Diese  Löffel  waren  voller  Staub  bei  ihrem 
Meister  -  er  machte  nie  Gebrauch  von  seiner  Erfindung. 
Ein  anderes  System,  verführerischer  und  mitunter  noch  heute  befolgt, 
besteht  in  der  Addition  irgendeiner  Farbe  (ein  «Verdacht» !)  zu  all  den 
andern  notwendigen  Farben  einer  sich  in  Arbeit  befindenden  Lein- 
wand -  ein  wenig  Grün  oder  Rot  oder  ein  wenig  von  einer  anderen 
Farbe  dient  als  «Brücke»  zwischen  allen  verwendeten  Farben  und 
garantiert  mit  Sicherheit  die  Harmonie  -  die  vollständige  Harmonie. 
Wie  Sie  sehen,  schließt  dieses  System  die  reinen  Farben  aus,  über  die 
ich  im  folgenden  sprechen  werde.  Was  dieses  System  der  «Brücke» 
mit  seiner  vollen  Garantie  für  untadelige  Harmonie  betrifft,  wäre  es 
nicht  gefährlich,  es  immer  und  ohne  Ausnahme  zu  verwenden? 
Würde  man  nicht  Gefahr  laufen,  eine  unbegrenzte  Zahl  von  hoffnungs- 
los monotonen  und  langweiligen  Werken  zu  produzieren  ? 
Wäre  es  nicht  vorteilhaft,  um  die  Möglichkeiten  zu  bereichern,  auch 
das  Gegenteil  des  Systems  der  «Brücke»  zuzulassen,  das  System  der 
reinen  Farben? 

Der  Regenbogen  ist  harmonisch.  Die  Variationsmöglichkeiten  wären 
sehr  begrenzt,  aber  die  Harmonie  gesichert.  Sie  wäre  gesichert, 
wenn  man  unsere  Palette  identifizieren  könnte  mit  derjenigen  des 
Regenbogens.  Aber  verschiedene  Fabriken  produzieren  nicht  das 
gleiche  Zinnober.  Die  reinen  Farben  -  ein  schöner,  nicht  realisier- 
barer Traum. 

Die  «absoluten»  Mittel  gibt  es  nicht  in  der  Malerei. 
Es  gibt  nur  relative  Mittel. 
Das  ist  eine  positive  und  erfreuliche  Tatsache,  denn  es  ist  die  Relati- 


228 


vität,  aus  der  die  unbegrenzten  Mittel  und  der  unerschöpfliche 
Reichtum  der  Malerei  entstammen. 

Ja,  die  Harmonie!  Eine  komplizierte  Angelegenheit,  an  die  man  sich 
verlieren  kann.  Das  Gegenteil  der  Harmonie  ist  die  Disharmonie. 
Und  im  Laufe  der  ganzen  Geschichte  der  Malerei  wird  die  Disharmonie 
von  gestern  zur  Harmonie  von  morgen.  Die  Kunst  ist  ein  kompli- 
ziertes Phänomen. 

Ich  möchte  nicht  durch  zuviele  Details  langweilen,  aber  wie  kann  man 
an  einigen  Beispielen  vorübergehen?  Ich  werde  sie  kurz  darstellen: 
Die  Rolle  der  Dimensionen  der  «Farbflecken»,  die  der  Nachbarfarben 
mit  ihren  Dimensionen,  der  gegenseitige  Einfluß  aller  Teile  der  Lein- 
wand undsoweiter.  Eine  kleine  Form  kann  einen  so  starken  «Akzent» 
erhalten,  daß  sie  vollständig  die  Größe  verändert.  Die  Intensität  und 
die  Wichtigkeit  der  großen  Formen.  Das  ist  wie  eine  Sirene,  die  allen 
Lärm  der  Stadt  überdeckt,  die  Straßen  enger  und  die  Häuser  kleiner 
macht.  Ich  komme  nicht  darum  herum,  ein  Wort  über  die  Bedeutung 
der  von  einer  Form  besetzten  Stelle  der  Leinwand  zu  sagen.  Ich  habe 
in  einem  meiner  Bücher  versucht,  eine  Analyse  der  «Spannungen» 
der  leeren  Leinwand  zu  geben,  das  heißt  der  latenten,  eingeschlossenen 
Kräfte,  und  ich  glaube,  zu  einigen  richtigen  Definitionen  gekommen 
zu  sein  über  die  wesentlich  verschiedenen  «Spannungen»  von  «oben» 
und  «unten»,  von  «rechts»  und  «links». 

Ein  blauer  Kreis,  oben  links  auf  der  Leinwand,  ist  nicht  mehr  der- 
selbe, wenn  er  nach  unten  rechts  verlegt  wird  -  das  «Gewicht»,  die 
Größe,  die  Intensität,  der  Ausdruck  sind  verschieden.  Dies  ein 
Beispiel  von  der  bedeutenden  Rolle  des  «Details». 


229 


Die  Leinwand  ist  eingeteilt  in  große  und  kleine  Teile.  Die  Dimen- 
sionen dieser  Teile  produzieren  die  «Proportion».   Die  Proportion 
entscheidet  den  Wert  des  Werkes. 
Die  Harmonie  der  Formen  der  Zeichnung. 
Wie  die  richtige  Proportion  finden  ? 
Kann  sie  errechnet  werden  ? 

Ein  einfacher  Versuch :  man  legt  auf  ein  Stück  Papier  von  der  Größe 
20  x  40  cm  zwei  Rechtecke  -  eines  von  2x4  cm,  das  andere  von  4  X  8cm. 
Auf  schematische  Weise  erreicht  man  so,  durch  richtige  Proportion, 
eine  Harmonie.  Das  ist  keine  allzu  erfreuliche  «Komposition»,  aber 
wenigstens  eine  von  garantiertem  Wert. 

Aber  da  zeigt  sich  ein  neues  Hindernis :  die  Farben  ändern  die  Dimen- 
sionen. Ein  sehr  einfaches  Beispiel :  ein  schwarzes  Quadrat  auf  Weiß 
macht  einen  kleineren  Eindruck  als  ein  weißes  Quadrat  auf  Schwarz. 
Es  sind  die  optischen  Proportionen,  die  die  mathematischen  Pro- 
portionen zerstören  und  sie  ersetzen. 

Die  Wirkung  einer  Malerei  ist  -  unglücklicher-  oder  glücklicherweise 
-  optischer  Natur. 

Was  bleibt  noch  von  der  «richtigen  Proportion»  ? 
(Ist  sie  richtig  beim  Sperling  oder  beim  Vogel  Strauß  ?  Bei  der  Giraffe 
oder  beim  Maulwurf?) 
Und  dennoch! 

Wir  kennen  Beispiele  von  errechneten  Werken.  Es  ist  sicher,  daß 
dieses  «Rechnen»  bald  aus  dem  Unterbewußten,  bald  mathematisch 
vorgenommen  wird.  Es  «springt  in  die  Augen»,  oder  es  erfordert,  um 
sichtbar  zu  werden,  der  Messung. 


230 


Ein  russischer  Musiker,  M.  Chenchine,  unternahm  vor  gut  zwanzig 
Jahren  eine  beeindruckende  Analyse.  Er  hatte  zwei  Stücke  von  Liszts 
Jahre  der  Pilgerschaft  -  das  eine  inspiriert  durch  Michelangelos  Pensie- 
roso,  das  andere  durch  Raffaels  Sposali^to  -  gemessen. 
Im  weiteren  Verlauf  seiner  Untersuchungen  maß  er  auch  die  beiden 
Bildwerke  aus.  Das  Resultat  war  überraschend:  Michelangelos 
Pensieroso  zeigte  die  gleiche  «Formel»  wie  das  dieser  Plastik  zuge- 
eignete Musikwerk  (Formel  in  Zahlen).  Das  gleiche  traf  für  Raffaels 
Sposali^io  und  dem  entsprechenden  Musikwerk  von  Liszt  zu.  Ich 
glaube,  daß  wir  in  diesen  Fällen  die  beiden  Arten  von  «Rechnen»  vor 
uns  haben.  Wenn  man  annehmen  kann,  daß  die  beiden  Werke  der 
bildenden  Kunst  direkt  errechnet  waren:  das  heißt  mit  Hilfe  einer 
mathematischen  Methode,  so  ist  es  andererseits  außer  Zweifel,  daß 
Liszt  die  beiden  Formeln  erraten  hat  -  aus  dem  Unterbewußten.  Er 
hat  die  Bildwerke  «übersetzt»  auf  Grund  identischer  Formeln,  ohne 
diese  zu  kennen. 

Und  dennoch!  Es  wäre  verderblich,  allen  seinen  Glauben  in  das 
Rechnen  zu  legen.  Mit  den  «großen  Zahlen»  ginge  es  noch  an  (aber 
man  vergesse  das  weiße  und  schwarze  Quadrat  nicht!)  -  2,  4,  6,  8  .  .  . 
Die  Farbe  läßt  sich  nicht  messen  bis  in  die  kleinsten  Details,  bis  zu 
den  letzten  Differenzen,  die  nur  durch  «Gefühl»,  das  heißt  durch 
Intuition  gefunden  werden  können. 

Nun  sind  es  gerade  die  Details,  welche  die  «Musik»  machen.  Wenn 
sie  zwei  Personen  von  genau  gleicher  Statur  rinden,  von  gleicher 
Schulter-  und  gleicher  Hüftbreite,  mit  Armen,  Händen,  Beinen  und 
Füßen  von  gleichen  Ausmaßen,  werden  sie  nie  sagen,  diese  Personen 


231 


seien  identisch.  Die  «große  Proportion»  entscheidet  nie.  Es  sind 
die  Details,  die  entscheiden:  das  Augenlid,  der  Nagel  des  kleinen 
Fingers  der  linken  Hand  undsoweiter.  Die  kleinsten  Details. 
Gleich  ist  es  bei  der  Malerei:  die  «unbedeutendsten»,  manchmal 
«unsichtbaren»  Unterschiede  sind  oft  von  größerer  Wichtigkeit  als 
die  «große  Proportion»  und  entscheiden  den  Wert  eines  Werkes. 
Es  gibt  keine  andere  Mittel,  um  «optische  Proportion»  zu  erreichen. 
Ist  es  möglich,  den  reinen  Glauben  eines  Henri  Rousseau  nicht  un- 
endlich zu  verehren,  der  vollkommen  überzeugt  war,  nach  «Diktat» 
seiner  verstorbenen  Frau  zu  malen?  Die  Künstler  kennen  diese 
«geheimnisvolle  Stimme»  gut,  die  ihren  Pinsel  führte  und  ihnen 
Zeichnung  und  Farbe  «mißt».  Die  Kunst  ist  kosmischen  Gesetzen 
unterworfen,  die  durch  die  Intuition  des  Künstlers  aufgedeckt  werden, 
zum  Gewinn  seines  Werkes  und  zum  Gewinn  des  Betrachters,  der 
sich  oft  darüber  freut,  ohne  um  das  Mitwirken  dieser  Gesetze  zu 
wissen. 

Es  ist  ein  rätselhafter  Vorgang. 

Ist  es  nicht  traurig,  sich  so  mit  Rätseln  zu  plagen  ?  Ich  habe  mit  einer 
Frage  begonnen  und  ich  habe  ein  Fragezeichen  an  das  Ende  dieses 
letzten  Satzes  gesetzt  -  ein  «Hexenkreis». 

Ich  stelle  mir  dennoch  vor,  zwei  Sachen  von  ziemlicher  Wichtigkeit 
gesagt  zu  haben. 

Ich  habe  die  entscheidende  Rolle  des  Details  energisch  unterstrichen, 
und  ich  hoffe,  ein  gewisses  Mißtrauen  hervorgerufen  zu  haben  gegen 
die  auf  «äußerlichen»  Indizien  beruhende  «Kunstkritik»,  gegen  das 
Kriterium  der    «Technik»  der  Malerei,  gegen  «objektive»  Maße  des 


232 


Wertes,  gegen  «wissenschaftliche»  Indizien  im  allgemeinen.  Alles 
eher  negative  Antworten. 

Es  bleibt  mir  der  Versuch,  diesem  Negativen  abzuhelfen  durch  einen 
positiven  «Zusatz».  Es  ist  genügend  bekannt,  daß  jede  «Kunstepoche» 
ihre  besondere  «Physiognomie»  besitzt,  die  sie  von  der  Vergangenheit 
und  der  Zukunft  unterscheidet.  Jede  Epoche  zeigt  einen  neuen  gei- 
stigen «Inhalt»,  den  sie  durch  genaue  und  überzeugende  Formen  aus- 
drückt. Diese  Formen  sind  neu,  unerwartet,  überraschend  und  deshalb 
herausfordernd:  man  widersetzt  sich  allgemein  gegen  diese  heraus- 
fordernden Formen,  weil  sie  einen  neuen  Geist  ausdrücken,  einen 
Geist,  der  der  bequem  gewordenen  Tradition  feindlich  ist.  Denn  nur 
langsam  gewöhnt  sich  die  Menschheit  an  den  Wechsel  geistiger  Inhalte. 
Eine  bestimmte  Epoche  mit  ihrer  ausgesprochenen  Physiognomie 
ist  nichts  anderes  als  die  Summe  der  vollständigen  Werke  der  Künstler 
dieser  Epoche.  Und  es  ist  ganz  natürlich,  daß  jedes  Gesamtwerk 
irgendeines  Künstlers  dieser  Zeit  seinerseits  eine  ausgesprochene 
Physiognomie  aufzeigt.  Diese  Physiognomie  ist  nur  der  Ausdruck 
einer  bis  dahin  unbekannten  Welt,  welche  durch  die  Intuition  des 
Künstlers  entdeckt  wurde. 
Es  ist  folglich  offenbar,  daß : 

1.  es  schwierig  ist  (wenn  nicht  unmöglich),  ein  einzelnes  Werk  irgend- 
eines Künstlers  zu  «beurteilen»,  ohne  so  weitgehend  wie  möglich 
sein  Gesamtwerk  zu  kennen, 

2.  und  daß  es  nötig  ist  -  wenn  diese  Bekanntschaft  mit  dem  Gesamt- 
werk erworben  ist  -,  sich  zu  fragen,  ob  es  eine  neue,  bisher  unbe- 
kannte Welt  zeigt. 


233 


Der  Wert  des  Gesamtwerkes  hängt  von  der  Mannigfaltigkeit  der 
Ausdrucksformen  (der  «Reichtum»  der  Inhalte)  und  der  Kraft  (die 
«Genauigkeit»)  dieses  Ausdrucks  ab.  Gleichzeitig  ist  -  trotz  dieser 
Verschiedenheit  -  jedes  einzelne  Werk  eines  Künstlers  von  Wert 
so  bezeichnend  und  dem  Gesamtwerk  verbunden,  daß  der  Ursprung 
dieses  Einzelwerks  offensichtlich  ist  -  man  erkennt  die  «Handschrift» 
des  Künstlers. 

Die  Ausdruckskraft  in  der  Verschiedenheit  der  einzelnen  Werke 
und  im  Gesamtwerk,  diese  «Physiognomie»,  ausgedrückt  durch  einen 
Künstler,  welcher  der  Menschheit  eine  ihr  bisher  unbekannte  Welt 
eröffnet,  -  dies  ist  meiner  Meinung  nach  der  «Schlüssel»  des  Wertes 
.  .  .eines  «figurativen»  oder  «konkreten»  Werkes. 
Ja,  dieser  «Schlüssel»  öffnet  gleicherweise  die  Tür  zur  Malerei  mit 
oder  ohne  «Objekt». 

Und  dieser  Schlüssel  zeigt  auch  deutlich,  daß  der  Unterschied  zwi- 
schen diesen  beiden  Malereien  in  einer  übertriebenen  Weise  behandelt 
wird.  Eine  unbekannte  Welt  kann  mit  oder  ohne  Objekt  aufgedeckt 
werden.  Andrerseits  jedoch  besteht  ein  ausdrücklicher  Unterschied 
zwischen  diesen  beiden  Ausdrucks-  oder  Enthüllungswelten. 
Das  Objekt!  Es  ist  nicht  selten,  daß  der  Betrachter,  der  das  Objekt 
sieht,  glaubt,  die  Malerei  zu  sehen.  Er  erkennt  ein  Pferd,  eine  Vase, 
eine  Violine,  eine  Pfeife,  aber  den  rein  malerischen  Gehalt  läßt  er 
sich  leicht  entgehen.  Andrerseits,  wenn  das  Objekt  verschleiert  ist  oder 
unkenntlich  gemacht  wird  durch  den  Maler,  so  hält  sich  der  Betrachter 
an  den  Titel  des  Bildes,  der  auf  das  Objekt  anspielt.  Der  Betrachter 
ist  befriedigt  und  hat  die  Illusion,  die  Malerei  selbst  zu  genießen. 


234 


Das  Objekt  wird  manchmal  zur  Geistestäuschung. 
In  einem   solchen  Fall  verwandelt  sich  die  «Brücke»  zwischen   der 
Malerei  und  dem  Betrachter  zu  einer  Mauer. 

Gleichzeitig  das  Objekt  und  die  Malerei  zu  sehen,  ist  eine  Fähigkeit, 
die  sich  vom  angeborenen  Gefühl  und  der  Übung  ableitet.  Gleicher- 
weise die  Fähigkeit,  konkrete  Malerei  zu  sehen.  Ich  habe  genügend 
oft  Betrachter  gesehen,  die  sich  lebhaft  für  die  konkrete  Kunst  inter- 
essierten, ohne  sie  zu  «verstehen»  und  deren  Augen  dann  in  einem 
unerwarteten  Moment  geöffnet  wurden.  Es  war  schön,  die  Freude  der 
«Entdeckung»  mitanzusehen. 

Es  sei  mir  gestattet,  einige  kurze  Worte  über  meine  persönlichen 
Absichten  zu  sagen.  Es  ist  schon  viele  Jahre  her,  daß  ich  zur  kon- 
kreten Malerei  überging  -  nicht  ohne  beträchtliche  Anstrengungen, 
da  es  nötig  war,  das  Objekt  durch  eine  rein  malerische  Form  zu  ersetzen. 
Ich  mußte  auf  das  Diktat  der  «geheimnisvollen  Stimme»  warten.  Sie 
war  mir  günstig,  weil  ich  die  Malerei  zu  sehr  liebte,  um  sie  durch 
Objekte  zu  verschleiern.  Man  findet  keine  Kunstformen  «absichtlich» 
und  durch  Forcierung,  und  es  gibt  nichts  Gefährlicheres,  als  aus 
logischen  Gründen  auf  eine  neue  Ausdrucksweise  überzugehen. 
Mein  Rat  geht  deshalb  dahin,  der  Logik  in  der  Kunst  zu  mißtrauen. 
Und  auch  anderswo  vielleicht.  Zum  Beispiel  in  der  Physik,  wo 
gewisse  neue  Theorien  einige  Beweise  geliefert  haben  vom  Unge- 
nügen  der  «positiven»  Methoden.  Man  beginnt  vom  «symbolischen 
Charakter  der  physikalischen  Substanzen»  zu  sprechen.  Die  Welt 
scheint  der  «Tätigkeit  unbegreiflicher  Modell- Symbole»  unterworfen. 
In   meiner  Eigenschaft   als   Nicht-Gelehrter   sondern   als   Künstler, 


235 


könnte  ich  vielleicht  die  Frage  stellen:  «Sind  wir  am  Vorabend  des 
Bankrotts  der  rein  «positiven»  Methoden  angelangt»?  Zeigt  sich 
nicht  die  Notwendigkeit,  sie  durch  unbekannte  (oder  vergessene) 
Methoden  zu  vervollständigen,  durch  Methoden,  die  das  «Unter- 
bewußte», das  «Gefühl»  rufen,  die  man  oft  «mystische»  nennt?  In 
dieser  Eigenschaft  als  unverantwortlicher  Künstler  erlaube  ich  mir 
eine  bejahende  Aussage:  die  «Mauern»  zwischen  den  verschiedenen 
Künsten  sind  am  verschwinden  —  Synthese  — ,  und  die  dicke  Mauer 
zwischen  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  schwankt  —  «Die  Große  Syn- 
these». 

Versuchen  wir  also  nicht,  in  Kunstfragen  Methoden  anzuwenden, 
die  in  der  Wissenschaft  ihren  Wert  zu  verlieren  beginnen.  Was  mich 
anbelangt,  bin  ich  glücklich  zu  wissen,  daß  es  in  der  Kunst  nie  «wissen- 
schaftliche Maßstäbe»  geben  wird,  um  ihren  Wert  zu  messen.  In 
Wirklichkeit  würden  diese  «Maße»  ein  neues  Hindernis  darstellen 
für  das  «Verstehen»  der  Kunst.  Die  Vernunft  würde  das  «Gefühl» 
ersetzen,  das  heißt  die  schöpferische  Kraft  des  Künstlers  und  den 
notwendigen  «Führer»  des  Betrachters,  um  in  ein  Werk  «eintreten» 
zu  können. 

Die  heute  zu  sehr  geschätzte  Vernunft  würde  die  einzige  «unver- 
nünftige» Domäne  zerstören,  die  der  heutigen  armen  Menschheit 
noch  bleibt. 

Und  gerade  heute  sehen  wir  nur  zu  viele  Beispiele  von  ausgeübtem 
Zwang  auf  die  Kunst,  damit  diese  vernünftig  werde.  Demütigende 
Beispiele. 
Ich  sagte  einst  oft  zu  meinen  Schülern :  «Denken  Sie  soviel  Sie  wollen 


236 


und  soviel  Sie  können  -  das  ist  eine  schöne  Gewohnheit!  -,  aber 

denken  Sie  nie  vor  ihrer  Staffelei».  Ich  möchte  gerne  denselben  Rat 

den  Leuten  geben,  die  vergeblich  «Wertmaßstäbe»  suchen:  «Halten 

Sie  ihr  Ohr  hin  zur  Musik,  öffnen  Sie  ihr  Auge  für  die  Malerei.  Und 

denken  Sie  nicht!» 

Prüfen  Sie,  wenn  Sie  wollen,  nachdem  Sie  gehört  haben,  nachdem  Sie 

gesehen  haben. 

Fragen  Sie  sich,  wenn  Sie  wollen,  ob  Sie  dieses  Werk  «entführt» 

hat  in  eine  ihnen  bisher  unbekannte  Welt.   Wenn  ja,  was  wollen 

Sie  mehr? 


237 


Jede  geistige  Epoche 


1942  gab  ich  im  Allianz- Verlag  in  Zürich  eine  Mappe,  10  origin, 
mit  10  originalgrafischen  Blättern  heraus  von  Jean  Arp,  Max  Bill, 
Sonia  Delaunay,  Cesar  Domela,  Wassily  Kandinsky,  Leo  Leuppi, 
Richard  Paul  Lohse,  Alberto  Magnelli,  Sophie  Tseuber-Arp  und 
Georges  Vantongcrloo.  Ein  Teil  der  Blätter  war,  meist  im  gehei- 
men, in  Paris  und  Südfrankreich  gedruckt  und  in  die  Schweiz  ge- 
schmuggelt worden.  Nebenstehender  letzter  Holzschnitt  von  Kan- 
dinsky war  sein  Beitrag.  Nachstehende  Textkonzentration,  die, 
neben  Kurztexten  von  Arp,  Magnelli  und  Bill,  die  Einleitung 
bildete,  ist  sein  letztes  veröffentlichtes  theoretisches  Bekenntnis. 


Jede  geistige  Epoche  drückt  ihren  besonderen  Inhalt  in  einer  Form 
aus,  die  genau  diesem  Inhalt  entspricht.  Jede  Epoche  erhält  auf 
diese  Weise  ihre  wahre  «Physiognomie»,  voller  Ausdruck  und  Kraft, 
und  so  verwandelt  sich  «gestern»  in  «heute»  in  allen  geistigen  Be- 
reichen. Aber  die  Kunst  besitzt  außerdem  noch  eine  ihr  ausschließlich 
zugehörige  Qualität,  nämlich  die,  im  «Heute»  das  «Morgen»  zu  er- 
raten -  eine  schöpferische  und  prophetische  Kraft. 


239 


fea 


Die  farbigen  Reliefs  von  Sophie  Taeuber-Arp 


Der  letzte  Text,  den  Kandinsky  schrieb,  entstand  im  Juni  1943, 
unter  dem  Eindruck  des  Todes  von  Sophie  Tacuber-Arp,  über 
ihre  farbigen  Reliefs.  Es  ist  das  erste  und  einzige  Mal,  daß  sich 
Kandinsky,  damals  fast  77  Jahre  alt,  ausschließlich  über  das  Werk 
eines  anderen  Künstlers  schriftlich  äußerte.  Es  ist  dies  nicht  ganz 
zufällig.  Der  Tod  von  Sophie  am  13.  Januar  1943  hinterließ  für  alle 
in  unserem  Kreis  eine  schmerzliche  Lücke.  Jeder  der  mit  ihr  zu  tun 
hatte,  war  berührt  von  ihrem  lauteren  Wesen.  Deshalb  wohl  fand 
Kandinsky  für  ihr  Werk  Worte  besonderer  Anerkennung. 


Sophie  Tacuber-Arp  wählte  das  «farbige  Relief»  als  Ausdrucksmittel 
vor  allem  in  den  letzten  Jahren  ihres  Lebens.  Sie  bediente  sich  dabei 
fast  ausschließlich  der  einfachsten  Formen,  geometrischer  Formen. 
Durch  ihre  Zurückhaltung,  ihre  Stille,  durch  ihre  Eigenschaft, 
selbständiger  Ausdruck  zu  sein,  laden  die  Formen  die  geschickte 
Hand  ein,  sich  der  Sprache  zu  bedienen,  die  ihr  eigen  und  die  oft  nur 
ein  Flüstern  ist.  Aber  manchmal  ist  das  Geflüster  ausdrucksvoller, 
überzeugender,  eindringlicher  als  das  Laute,  das  sich  dann  und  wann 
zu  Ausbrüchen  hinreißen  läßt. 

Um  sich  Meisterschaft  über  die  «stummen»  Formen  aneignen  zu 
können,  ist  Begabung  mit  einem  feinen  Sinn  für  Maß  nötig,  muß  man 
die  Formen  an  und  für  sich  zu  wählen  wissen:  je  nach  der  Beziehung, 
die  zwischen  ihren  drei  Dimensionen  besteht,  nach  ihren  Propor- 
tionen, ihrer  Höhe,  ihrer  Tiefe,  ihrer  Fähigkeit,  sich  kombinieren 
zu  lassen,  ihrer  Art,  zu  einem  Ganzen  beizutragen  -  in  einem  Wort: 
man  muß  den  Sinn  für  Kombination  haben. 
Alle  diese  Anforderungen  komplizieren  die  Aufgabe,  selbst  wenn  es 


241 


sich  nur  um  monochrome  Plastik  (Plastik  aus  Stein)  handelt.  Zur 

Schönheit  der  Volumen  fügt  sich  bei  den  «kolorierten  Reliefs»  von 

Sophie  Taeuber-Arp  das  Geheimnisvolle,  die  erregende  Macht  der 

Farbe,  die  bald  die  Stimme  der  einfachen  Form  belebt,  bald  einen 

Akzent  mäßigt;  die  das  Strenge  der  einen  Form  betont,  während  sie 

einer  andern  Milde  mitteilt;  die  dieses  Hervorspringen  unterstreicht 

und  jenes  unaussprechlich  verringert.  Und  so  bis  ins  Unendliche. 

Ein  Widerhall  von  Stimmen,  eine  Fuge. 

Das  Arsenal  der  Ausdrucksmittel  ist  von  einem  unerschöpflichen 

Reichtum.  Die  größten  Gegensätze  sind:   «laut»  und  «leise».  Dem 

Donner  der  Pauken  und  Trompeten  einer  Ouvertüre  von  Wagner 

steht  die  leise,  die  «monotone»  Fuge  von  Bach  gegenüber. 

Hier :  der  Donner  und  die  Blitze,  die  den  Himmel  zerfetzen,  die  Erde 

erschüttern.  Dort :  ein  Himmel  glatt  und  grau,  in  seiner  ganzen  Weite, 

und  der  Wind  hat  sich  zurückgezogen  in  ferne  Gegenden.  Das  kleinste, 

nackte  Reis  bleibt  unbeweglich,  das  Wetter  ist  weder  warm  noch 

kalt. 

Sprache  der  Ruhe. 

Sophie  Taeuber-Arp  hat  sich  unfehlbar,  ohne  «Furcht  und  Tadel», 

ihrem  Ziel  genähert. 


242 


Tafel  -Verzeichnis 

S.  13  1910  No  1.  Studie  zu  «Komposition  II».  30,25  x  23,75 

14  1910  Studie  zu  «Improvisation  No  14».  30  x  20,5 

33  1912  No  4.  21,5  x  28,5 

46  1912  No  6.  21,5  x  34,5 

53  1912  No  2.  25  x  25,5 

57  1918 

60  1923  No  12.  23,3  x  30,3 

63  1924  No  10.  34,2  x  24,5 

68  1925  No  23.  25,3  x  31 

74  1925 

78  1925  No  5.  31  x  39 

83  1925  No  14.  31  x  38,5 

86  1928  No  3.  16,5  x  18 

108  1929  No  10.  5,25  x  26,5 

112  1930  No  21.  Schema  für  das  Bild  «Weiß  auf  schwarz»  (1930) 

22  x  27,5 

118  1931  No26.  18x22 

129  1932  No  32.  19  x  32,3 

133  1931  No  36.  27  x  32,5 

139  1932  No  12.  23  x  35 

143  1932  No  21.  29,5  x  31,3 

148  1933  No  14.  31  x  39 

151  1934  No  7.  23  x  33 

163  1934  No  6.  23  x  35 


166  1937  No  2.  22,3  x  32,75 

175  1938  No  2.  Schema  nach  dem  Bild  «Stabilite  anime»  (1937) 

27,3  x  32 

192  1938  No  4.  26  x  38 

201  1939  No  3.  14  x  22 

206  1939.  16x22 

212  1939  No  7.  16,3  x  21,75 

220  1937 

222  1940  No  5.  17,5  x  28 

238  1942.  Holzschnitt  für  «10  Origin».  21  x  27 

240  1942  No5.  20x27 

243  1944  No  5.  28,3  x  19 

Bild  «Weiß  auf  schwarz»,  1930,  auf  dem  Schutzumschlag 

Außer  dem  Holzschnitt  auf  Seite  238  handelt  es  sich  bei  allen  Tafeln 
um  Reproduktionen  nach  Zeichnungen  in  Tusche  auf  Papier. 


Inhalt 

S.  5  Einführung  von  Max  Bill 

15  Über  die  Formfrage.  1912 

47  Über  Bühnenkomposition.  1912 

61  Die  Grundelemente  der  Form.  1923 

64  Farbkurs  und  Seminar.  1923 

69  Über  die  abstrakte  Bühnensynthese.  1923 

75  Tanzkurven.  1926 

79  Der  Wert  des  theoretischen  Unterrichts  in  der  Malerei,  1926 

87  und.  1927 

99  Analyse  der  primären  Elemente  der  Malerei.  1928 

109  Modeste  Mussorgsky:  Bilder  einer  Ausstellung.  1928/30 

113  Kunstpädagogik.  1928 

119  Die  kahle  Wand.  1929 

123  Der  Blaue  Reiter.  1930 

130  Paul  Klee.  1931 

134  Betrachtungen  über  die  abstrakte  Kunst.  1931 

144  Fragen  und  Antworten.  1935 

149  Berechnung.  1935 

152  Die  Kunst  von  heute  ist  lebendiger  denn  je.  1935 

164  Linie  und  Fisch.  1935 

167  Leere  Leinwand  undsoweiter.  1935 

172  Abstrakte  Malerei.  1935 

181  Zwei  Richtungen.  1935 

185  Franz  Marc.  1936 


193  Zugang  zur  Kunst.  1937 

202  Interview  Nierendorf-Kandinsky.  1937 

207  Konkrete  Kunst.  1938 

213  abstrakt  oder  konkret.  1938 

216  Meine  Holzschnitte.  1938 

219  Stabilite  Animee.  1938 

223  Der  Wert  eines  Werkes  der  konkreten  Kunst.  1939 

239  Jede  geistige  Epoche.  1942 

241  Die  farbigen  Reliefs  von  Sophie  Taeuber-Arp.  1943 

244  Verzeichnis  der  Tafeln. 


Im  Benteli -Verlag,  Bern-Bümpliz,  erschien: 

Kandinsky:  Über  das  Geistige  in  der  Kunst 

mit  Einführung  von  Max  Bill. 
144  Seiten  mit  den  10  Holzschnitt-Illustrationen, 
die  Kandinsky  1910  für  die  Originalausgabe  machte. 
4.  Auflage  1952.  5.  Auflage  1956. 

Kandinsky:  Punkt  und  Linie  zu  Fläche 

mit  Einführung  von  Max  Bill. 

212  Seiten  mit  127  Abbildungen,  die  der 

Originalausgabe  beigegeben  waren,  dem  Bauhausbuch 

Band  9,  1926  herausgegeben  von  Walter  Gropius 

und  L.  Moholy-Nagy. 

3.  Auflage  1955. 

Beide  Bände  sind  broschiert,  im  übrigen  in  gleicher  Ausführung  wie 
das  Buch  «Essays  über  Kunst  und  Künsder». 


charakteristisch  wiedergegeben  wird,  von  191C,  dem  Beginn 

seiner  ersten  konkreten  Bildwerke,  bis  1944.  dein  Jahre  seines 
Todes.  Es  ist  das  erste  Mal,  daß  in  diesem  Umfang  und  in  SO 
reicher  Auswahl  Zeichnungen  von  Kandinsky  veröffentlicht 

werden.  Dadurch  füllen  die  den  Text  hier  begleitenden  Zeich- 
nungen eine  Lücke  aus,  denn,  wie  es  bei  Kandinsky  ein  nam- 
haftes graphisches  Werk  (Radierungen,  Holzschnitte  und 
Lithographien)  gibt,  entstanden  auch  selbständige  Zeichnun- 
gen, die  nicht  als  Ölbilder  wiederkehren.  Es  handelt  sich  dabei 
meist  um  Zeichnungen,  bei  denen  er  ein  bestimmtes  Form- 
oder Kompositionsprinzip  darstellt. 

Wir  haben  bei  Kandinsky  den  Fall  einer  Identität  von  ge- 
staltendem Schaffen  und  schriftlicher  Äußerung  vor  uns,  der 
in  seinem  Bemühen,  sich  über  das  Künstlerische  hinaus  auch 
intellektuell,  vor  sich  selbst  und  vor  seiner  Umwelt,  zu  recht- 
fertigen, mit  besonderer  Eindeutigkeit  dasteht. 
Damit  befindet  sich  Kandinsky  in  der  bevorzugten  Lage,  sich, 
durch  seine  Äußerungen,  vor  Fehlinterpretationen  Dritter 
weitgehend  geschützt  zu  haben.  Wenn  man  erlebt,  was  heute 
von  mehr  oder  weniger  Berufenen  in  die  Kunstwerke  und  in 
das  Leben  der  Künstler  hineingeheimnißt  wird,  ist  man  Kan- 
dinsky dankbar  für  seine  authentischen  Essays  über  Kunst 
und  Künstler. 


Verlag  Gerd  Hatje  Stuttgart